Für das Leben mit dem Tod

Schonungslos beschreibt Michael de Ridder, selbst seit 30 Jahren Rettungsstellenleiter in Berlin, alltägliche Missstände und erzählt von Schwerkranken, die wie Stückgut behandelt werden. Mit seinem Buch plädiert er für eine „neue Sterbekultur“.
Das Thema Tod spielt in unserer Gesellschaft eine Nebenrolle, wird angesichts von Jugendkult und Fitness verdrängt und findet daher meist in Hinterzimmern statt, weit weg vom Leben, in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Und auch dort wird der Tod zum störenden Sand im Getriebe, bremst den pflegerischen Ablauf und entspricht so gar nicht dem ärztlichen Selbstverständnis, heilen zu wollen. Mit seinem ergreifenden Buch „Wie wollen wir sterben?“ legt Michael de Ridder den Finger genau in diese gesellschaftliche Wunde, übt laut und nachdrücklich Kritik und setzt sich leidenschaftlich für die Würde des Menschen bis zum letzten Atemzug ein.

Schonungslos offen beschreibt de Ridder, selbst seit 30 Jahren Rettungsstellenleiter in Berlin, alltägliche Missstände und erzählt von schwerkranken Menschen, die nicht selten wie unmündiges Stückgut behandelt werden. Die Magensonde für Herrn K. führt zu Unruhezuständen und Infektionen, sie entlastet aber die Pfleger, weil sie den Patienten nicht mehr füttern müssen. Die Wiederbelebung einer schwerstkranken 81-Jährigen beruhigt das Gewissen des Arztes, der Patientin bereitet sie einen langen und beschwerlichen Tod. Zwei Beispiele, die deutlich machen: was Todkranke wünschen, was gut für sie wäre, wird vielerorts ignoriert. An oberster Stelle stehen die Erfüllung von Dienstplänen, der Einsatz aller zur Verfügung stehenden technischen Geräte und Therapien sowie die Arroganz der Ärzte.

In seinem „Plädoyer für eine neue Sterbekultur“, so der Untertitel, stellt de Ridder aber nicht nur das Handeln seiner Kollegen in Frage, sondern er analysiert die aktuellen Umstände, die für diese Missstände verantwortlich sind, sehr genau. Und nein, nicht die Unterfinanzierung des deutschen Gesundheitssystems ist schuld, so de Ridder, vielmehr sind die Prioritäten falsch gelegt. Das meiste Geld fließt in die Kurativ- und Akutmedizin, weniger in die Palliativmedizin und in die Pflege. Was dazu führt, dass teure und oft nutzlose Herzkathederuntersuchungen ohne Kommentar bezahlt werden, für die Pflege für unheilbar Kranke oder Sterbende hingegen reicht das Geld nicht. Und genau das muss sich ändern, so de Ridders Hauptforderung. Das Medizinsystem darf nicht weiter zur Hochleistungsdisziplin ausgebaut werden, das Ärzte und Pfleger unter immense Zwänge setzt und damit ein humanes Sterben unmöglich macht.

Die Verantwortung hierfür haben Gesetzgeber und Krankenkassen, sagt der Arzt, und meint damit letztendlich jeden von uns. Erst wenn das Thema Sterben aus seinem Schattendasein gelöst wird, ist eine Umkehr möglich. Dazu gehört auch, sich mit der komplexen Rechtslage von Patientenwille und ärztlichem Handeln auszukennen und sich klar darüber zu werden, was will ich selbst. Denn die Entscheidung, ob man jemanden sterben lässt oder doch immer weiterbehandelt, ist sowohl für Ärzte als auch für die Patienten und ihre Angehörigen oft eine Gradwanderung. Ein richtig oder falsch gibt es hier nicht. Was es aber geben muss ist eine Sterbekultur, die es erlaubt, in Würde aus dem Leben zu scheiden.

Besprochen von Susanne Nessler

Michael de Ridder: Wie wollen wir sterben? Ein ärztliches Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2010
320 Seiten, 19,95 Euro