Früherer US-Botschafter: "Obamacare" ist nicht wahlentscheidend

John Kornblum im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 29.06.2012
Nach Einschätzung des Diplomaten John Kornblum kann US-Präsident Barack Obama nach dem Urteil des Obersten Gerichtshofes zur Gesundheitsreform auf Basis seiner Reformen Wahlkampf machen. Allerdings warnte er davor, dem Urteil eine zu große Bedeutung beizumessen.
Korbinian Frenzel Barack Obama kann aufatmen: Sein wichtigstes innenpolitisches Projekt hat gestern juristisch überlebt – die Gesundheitsreform. Der Supreme Court, Amerikas höchstes Gericht, hat die Klage von 26 US-Bundesstaaten gegen das Projekt abgewiesen: Das Ziel, alle Amerikaner zu versichern, sie sogar zu verpflichten, eine Versicherung abzuschließen, verstößt nicht gegen die Verfassung. Das haben die Richter entschieden, genau genommen fünf der neun Richter, vier sahen das anders. Die Entscheidung, sie hätte auch durchaus anders ausfallen können, gerade angesichts der politischen Zusammensetzung des Supreme Courts.

Was bedeutet dieses Urteil für Amerika? Warum streitet sich dieses Land so unerbittlich um eine aus unserer Sicht so selbstverständliche Sache? Fragen, die sich stellen, und ich freue mich, einen der guten, der großen Amerika-Erklärer in Deutschland am Telefon begrüßen zu können, John Kornblum, der ehemalige US-Botschafter in Berlin. Guten Morgen!

John Kornblum: Guten Morgen!

Frenzel: Das Gericht hat sich relativ deutlich auf die Seite Obamas gestellt. Hat es Sie überrascht, dass die Gesundheitsreform im Grunde ungeschoren durchgekommen ist?

Kornblum: Na, erstens ist sie nicht ungeschoren durchgekommen. Das Urteil war in verschiedenen Teilen, und es gibt ein, zwei Teile, wo man gegen Obama entschieden hat. Aber was passiert ist, ist: Der Kern dieser Reform, das Stück, das es überhaupt möglich macht, ist von dem Gericht für verfassungskonform gehalten worden. Die Begründung dafür ist sehr kompliziert.

Es hat mit der Konstruktion der amerikanischen Verfassung zu tun und mit der Auslegung, die es seit 200 Jahren gegeben hat. Aber im Endeffekt haben sie ... Obama recht gehabt, dass er eine Verpflichtung einbauen könnte, dass alle Menschen entweder eine Krankenversicherung annehmen sollten oder dass sie sozusagen eine kleine Strafe bezahlen müssen. Und das ist für verfassungskonform gehalten worden.

Frenzel: Wie wichtig ist diese Entscheidung des Supreme Court für Barack Obama - gerade jetzt, vier Monate vor der Präsidentschaftswahl?

Kornblum: Ach, ich glaube, es ist sehr, sehr wichtig, es ist sogar historisch – aus zwei Gründen: Erstens ist ... erlaubt es Obama jetzt auf der Basis von seinen Reformen auch seinen Wahlkampf zu führen, und er kann gegen die Republikaner ein sehr klares Argument bringen, und es wird sehr schwierig für die Republikaner, dagegen zu argumentieren.

Die Umfragen zeigen, dass, wenn Amerikaner gefragt sind, sind Sie für eine allgemeine Krankenversicherung, eine ziemlich bedeutende Minderheit sagt: nein. Aber wenn man sagt: Sind Sie für Punkt a, b, c oder d von dieser Versicherung, dann sagen sie alle ja. Das heißt, es gibt Obama eine gute Plattform. Aber zweitens: Es beschreibt wieder – und das passiert nicht häufig, aber sehr regelmäßig in Amerika –, das Gericht beschreibt einen Weg in die Zukunft, und das wird auch sehr wichtig sein.

Frenzel: Und wie sieht dieser Weg aus in die Zukunft?

Kornblum: Dieser Weg sieht aus, erstens, dass diese allgemeine Krankenversicherung erlaubt wird, und es wird ausgebaut werden, aber es hat auch einen Sockel der liberalen Revolution des 20. Jahrhunderts, der sogenannte (…), limitiert. Das heißt, dass es in der Zukunft sehr viel Debatte und Streit geben wird über die Frage: Kann die Bundesregierung alles regulieren, das zwischen den Bundesstaaten passiert? Das ist sehr kompliziert, aber für Amerika ein Grundstein der ganzen Verfassung.

Frenzel: Kommen wir mal auf vielleicht weniger komplizierte Dinge, aber große Fragen, die wir uns hier in Europa ja immer wieder stellen. Die Widerstände gegen die Reform waren enorm. Was ist eigentlich das Problem? Es geht ja schließlich um eine Gesundheitsversorgung für alle, das ja erst mal per se etwas Positives sein sollte.

Kornblum: Ja, na ja, Europa ist nicht Amerika, und Amerika basiert sich auf ganz anderen Voraussetzungen. Wir glauben nicht, dass es die Rolle des Staates ist, das private Leben zu regeln, und viele Amerikaner sehen die Wahl einer Krankenversicherung als eine Regelung des privaten Lebens. Der Punkt ist hier nicht, ob es die Versicherungen gibt, sondern ob es eine Pflichtversicherung ist.

Frenzel: Macht Barack Obama die USA also damit ein klein wenig europäischer?

Kornblum: Nein, auf keinen Fall. Was er macht, ist, dass er durchgebracht hat eine Weise, um die wirtschaftliche Liquidität sozusagen seiner Versicherung zu sichern, indem alle Amerikaner sich entscheiden müssen: Entweder werden sie diese Versicherung annehmen, oder sie müssen eine Strafe bezahlen, und diese Strafe wird als Steuer gesehen werden. Es wird billiger sein für die meisten Amerikaner, die diese Versicherung nicht haben wollen, die Strafe zu bezahlen als die Versicherung anzunehmen. Es hat ein sehr amerikanisches Element eingebaut.

Frenzel: Die Republikaner haben ja bereits angekündigt, das jetzt zum großen Thema des Wahlkampfes zu machen auch, für die Präsidentschaftswahl. Glauben Sie, dass das eines der wahlentscheidenden Themen sein könnte?

Kornblum: Nein, glaube ich persönlich nicht. Erstens: Dieses Thema ist seit Harry Truman 1948 ein Mittelpunkt der Debatte zwischen Republikanern und Demokraten gewesen, und es wird weiterhin so sein. Aber die Tatsache ist, dass die meisten Amerikaner mit den Vorteilen der Versicherung zufrieden sind. Sie sind aber mit der wirtschaftlichen Lage nicht zufrieden. Und der Wahlkampf wird im Endeffekt meines Erachtens auf der Basis der Wirtschaft entschieden werden und nicht auf der Basis der Krankenversicherung.

Frenzel: John Kornblum, ehemals Botschafter der USA in Deutschland, zur US-Gesundheitsreform. Das oberste Gericht hat sie gestern für verfassungskonform erklärt. Vielen Dank, Herr Kornblum, für das Gespräch!

Kornblum: Ich bedanke mich!


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