„Frühe Investition lohnt sich immer“

Barbara Ischinger im Gespräch mit Jörg Degenhardt |
Ab August gibt es in Deutschland einen Rechtsanspruch auf Betreuung für Einjährige. Die Förderung von Kindern im frühen Alter sei gewinnbringend, meint Barbara Ischinger, die OECD-Direktorin für Bildung. Deutschland stehe im internationalen Vergleich gut da.
Jörg Degenhardt: Mecklenburg-Vorpommern ist spitze, zumindest in der Kita-Betreuung: So besuchen 95 Prozent der Drei- bis Sechsjährigen eine Kindertagesstätte. Andere Bundesländer mit zugegeben mehr Bevölkerung müssen sich da noch mächtig ins Zeug legen, denn ab August gibt es in Deutschland einen Rechtsanspruch auf Betreuung schon für Einjährige.

Der Wert dieser Betreuung für die spätere Entwicklung der Jüngsten ist heute kaum noch umstritten. Frühe Bildung und Betreuung in internationaler Perspektive, was können wir voneinander lernen, so heißt die Tagung zum Thema, die heute in Berlin beginnt, und etwas dazu zu sagen hat auch die OECD, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, und zwar in Gestalt ihrer Direktorin für Bildungswesen und Kompetenzen, so heißt das offiziell: Barbara Ischinger.

Ich habe sie gefragt: Wo steht Deutschland denn derzeit im internationalen Vergleich?

Barbara Ischinger: Ja, Deutschland steht recht gut da, mehr als 96 Prozent der Vierjährigen nehmen an einem Vorschulbildungsprogramm teil, und dieser Anteil bei den Vierjährigen liegt deutlich über dem OECD-Durchschnitt.

Allerdings müssen wir bei diesen Zahlen etwas Vorsicht walten lassen, denn die Teilnehmerquote ist damit angegeben, nicht aber eine Information über die Dauer der Teilnahme. Wir wissen also nicht, wie viele Stunden die Kinder de facto in der Vorschule verbringen.

Degenhardt: Die ersten Jahre der Kindheit, sie gelten gewissermaßen als ein Zeitfenster mit besonderen Entwicklungs- und Lernchancen. Was heißt das denn ganz praktisch, zum Beispiel, dass unsere Kinder gleich mit der Muttersprache noch eine Fremdsprache lernen?

Ischinger: Auf jeden Fall lernen die Kinder dann bereits im frühen Alter, besser mit der Sprache, mit der deutschen Sprache umzugehen, und hier spiele ich jetzt auch auf Migrantenkinder an, sie lernen es auch, besser mit Zahlen umzugehen, soziales Verhalten und auch emotionales Verhalten besser zu kontrollieren. All das sind Bereiche, die unglaublich wichtig sind, und für diejenigen, die von ihren Eltern her nicht das Bildungsniveau mitbringen, ist es eine große Chance, hier eine Leistung gleich mitzubringen, die auch ihren Beginn in der Schule verbessert.

Degenhardt: Sie haben die Eltern erwähnt. Welche Rolle spielen die Eltern in dieser Entwicklungsphase? Eher eine am Rande, weil sie ja arbeiten gehen müssen, oder auch weil es sich vielfach ja um Alleinerziehende handelt?

Ischinger: Die Vorschulprogramme werden zunehmend in den Ländern auch gefordert, wo gutausgebildete junge Mütter auch wieder in den Beruf wollen. Hier gibt es ganz große Nachfragen, in Japan beispielsweise, in Australien, wo der Bedarf noch nicht gedeckt ist, und in Deutschland hat das sicherlich auch dazu beigetragen, dass junge Mütter sich freier fühlen, in den Beruf zurückzukommen.

Degenhardt: Böswillig könnte man ja unterstellen, die frühkindliche Bildung wird deswegen gefördert, vor allem auch, damit es den Müttern erleichtert wird, wieder in den Beruf zu kommen.

Ischinger: Das ist sicherlich von vielen Regierungen auch so vorgesehen. Demografische Entwicklungen machen es nötig, dass die Kapazität der Frauen, ihr Potenzial, auch wirklich mit aufgenommen wird in die Strategien und Zukunftsplanungen. Natürlich muss das Kind dabei immer im Mittelpunkt bleiben, und Qualitätsbetreuung, Qualitätserziehung muss im Mittelpunkt stehen, und hier legen unsere Studien auch großen Wert darauf, dass in vielen Bereichen, also auch einmal das Verhältnis Betreuer und Kinder stimmt. Und das muss gerade in jungen Jahren ein Verhältnis sein, was viel Aufmerksamkeit für die kleinen Kinder erlaubt.

Degenhardt: Was lässt sich denn über den Schlüssel sagen? Wie viele Betreuerinnen kümmern sich in Deutschland um den Nachwuchs, verglichen mit anderen Ländern?

Aufmerksamkeit ist sehr wichtig
Ischinger: Das Kinder-Betreuer-Verhältnis fällt in Deutschland von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich aus, und in Nordrhein-Westfalen gibt es ein sehr günstiges Verhältnis, und zwar eins zu drei, in Norwegen ein Verhältnis eins zu neun, also da gibt es Spitzenrenner, und wir legen Wert darauf, dass die Betreuer keine zu große Zahl der Kleinkinder haben. Das ist nicht mehr so wichtig im Schulalter, weil da der Lehrer sehr gut die jeweiligen Schulklassen aufteilen kann. Aber bei den jungen Kindern, bei den kleinen Kindern, ist die Aufmerksamkeit, die der Betreuer einem jedem Kind dann auch wirklich geben kann, sehr, sehr wichtig.

Degenhardt: Ab dem 1. August gibt es ein Betreuungsgeld in Deutschland, 150 Euro für die, die ihren Nachwuchs daheim betreuen. Gibt es etwas Vergleichbares eigentlich auch bei unseren Nachbarn?

Ischinger: Wir haben Erfahrungen gesammelt, dass Betreuungsgelder für Betreuung zu Hause nicht immer sinnvoll sind. Und wenn Sie daran denken, dass gerade die Migrantenfamilien weniger Gebrauch machen von diesen Vorschulprogrammen, so trifft das oft die Falschen. Und hier müssen schon Anreize geschaffen werden, damit rundherum in der Gesellschaft ein Vorschulbesuch weiterhin attraktiv bleibt.

Degenhardt: Warum ist überhaupt die frühkindliche Entwicklung, die Bildung in dieser Phase so wichtig? Sollte man nicht zum Beispiel mehr Augenmerk auch auf die beruflichen Chancen von Jugendlichen legen? Da gibt es ja viele derzeit, die arbeitslos sind, die einen Ausbildungsplatz suchen.

Ischinger: Man muss natürlich immer abwägen, wo man einsteigt. Allerdings ist die Förderung im frühen Alter immer eine gewinnbringende. Und wir wissen ja auch durch die PISA-Ergebnisse, dass die Jugendlichen, die frühzeitig auch schon eine Vorschule besucht haben, sehr viel bessere Lernchancen mitgebracht haben und auch bessere Lernergebnisse dann erbringen als 15-Jährige. Und somit steigen auch ihre späteren Berufschancen. Also die frühe Investition lohnt sich immer.

Degenhardt: Frau Ischinger, Sie haben die PISA-Studien erwähnt, wir kennen sie alle, diese internationalen Schulvergleiche sind ja nicht unumstritten, weil eben in den Ländern auch jeweils sehr unterschiedliche Bedingungen herrschen. Wann kommt das Kindergarten-PISA?

Ischinger: Das Kindergarten-PISA – daran haben wir noch nicht gedacht. Wir haben gewisse Bereiche von der Vorschulphase, die wir auch noch besser messen wollen, die Betreuerverhältnisse zu den Kindern, wie schon erwähnt, dann auch, wie viel Stunden die jungen Kinder in diesen Vorschulprogrammen verbringen, sowie auch gewisse Qualitätsstandards, die schon einige Länder eingeführt haben, wo es also nationale Qualitätsstandards für die Früherziehung auch gibt.

Degenhardt: Barbara Ischinger war das, OECD-Bildungsdirektorin, und wir haben über Deutschlands Nachwuchs gesprochen und über das frühkindliche Bildungs- und Betreuungssystem. Frau Ischinger, vielen Dank für das Gespräch!

Ischinger: Ich danke Ihnen!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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Anita Kaiser, Erzieherin der Kinder-Betreuungsinitiative „Remsracker e.V.“, spielt in Remseck bei Ludwigsburg mit den Kindern.© AP
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