Frühe Gedenkkultur

Die meisten Männer und Frauen, die während der NS-Zeit Verfolgten halfen, gerieten in Vergessenheit – auch deshalb, weil in der jungen Bundesrepublik eine öffentliche Gedenkkultur fehlte. Einzige Ausnahme: Der Berliner Senat startete in den 50er Jahren eine Ehrungsinitiative. Dennis Riffel erinnert in „Unbesungene Helden“ daran und analysiert, nach welchen Kriterien die Auswahl vorgenommen wurde.
Am 7. Juli 1960 verabschiedete das Abgeordnetenhaus von Berlin (West) einstimmig die vom Senat vorgelegten „Grundsätze über die Ehrung von Berliner Bürgern, die in der NS-Zeit Verfolgten uneigennützig Hilfe gewährt haben“. Von nun an hatte das bereits seit zwei Jahren praktizierte Verfahren der Ehrung von Helfern einen verwaltungsrechtlichen Rahmen erhalten. Andere Bundesländer konnten sich nicht entschließen, dem Berliner Beispiel zu folgen, und auf Bundesebene brauchte man sehr lange, bis man sich zur Anerkennung der Helfer entschied.

In Westberlin wurden 760 Menschen durch eine Urkunde geehrt. Sie erhielten bei Bedürftigkeit auch eine einmalige oder eine geringfügige monatliche finanzielle Unterstützung. Eine bis heute fast vergessene Initiative, deren Vorgeschichte und Verlauf Dennis Riffel in seiner gerade erschienenen Untersuchung „Unbesungene Helden“ vorstellt und analysiert.

Dem Engagement zweier Männer vor allem ist diese einzigartige Aktion zu danken: Kurt Grossmann und Joachim Lipschitz. Grossmann, Jude, in Berlin geboren, floh in die USA und war dort als Publizist tätig, zum Beispiel für die deutsch-jüdische Emigrantenzeitung „Aufbau“. Nach Kriegsende begann Kurt Grossmann Geschichten von Menschen zu sammeln, die Juden geholfen hatten, dem Terror der Nazis zu entkommen. 1957 veröffentlichte er ein Buch über das Schicksal vieler der Helferinnen und Helfer, er nannte seine Protagonisten „Die unbesungenen Helden“. Sein Ziel war vor allem, dem Bild des Nazi-Kriegshelden einen neuen, menschenfreundlichen, uneigennützigen Helden entgegenzustellen. Die Berliner Jüdische Gemeinde griff die Idee auf und ehrte 1958 in einer Gedenkfeier den „namenlosen nichtjüdischen Helden“.

Joachim Lipschitz wiederum, seit 1955 Westberliner Innensenator, war einerseits durch seine Familiengeschichte und eigene Erlebnisse als Sohn eines jüdischen Vaters am Schicksal der Verfolgten stark interessiert. Er wollte den meist „kleinen Leuten“ beistehen, die tatkräftig geholfen hatten und von denen viele nun in bedrängten Verhältnissen lebten. Lipschitz hatte darüber hinaus aber auch das Ziel, durch die öffentliche Vorstellung von Helfern die „Ehre seines Landes wiederherzustellen“.

Den Hauptteil seiner Untersuchung hat Dennis Riffel der Analyse vollzogener und nicht vollzogener Ehrungen gewidmet, und er kann sich dabei vor allem auf die bisher noch nicht, beziehungsweise noch nicht gründlich erfolgte „Durchforstung“ der relevanten Akten des Berliner Entschädigungsamtes und der Senatsverwaltung des Inneren stützen. (Vielleicht war es die für den Historiker äußerst günstige Aktenlage, die ihn bewog, sich nicht stärker auf die ebenfalls erhaltenen oral history Niederschriften, Interviews mit Helfern, aus späterer Zeit zu beziehen.) Auffällig dabei: die hohe Zahl der Ablehnungen. Von insgesamt über 1800 Personen, für die Anträge gestellt wurden, ehrte der Senat nur weit weniger als die Hälfte, die eingangs erwähnten 760.

Wie kam es zu der hohen Zahl von Ablehnungen? Nach welchen Kriterien wurde überhaupt entschieden? Wer seinen Wohnsitz nicht in Westberlin hatte, sondern sich aus dem Bundesgebiet meldete, wurde abgelehnt, ebenso wurden Antragsteller aus Ostberlin abgelehnt, beziehungsweise ihre Akten wurden, bis zum Mauerbau, an die Arbeitsgemeinschaft der Verfolgtenverbände weitergereicht. Der Kalte Krieg wirkte sich somit auch auf die Ehrungsaktion „Unbesungenen Helden“ aus. Alle Anträge wurden genau geprüft, und dies konnte Jahre dauern. Wie lange hatte ein Helfer einen Verfolgten unterstützt? Welche Form der Hilfestellung lag vor? Zu welchem Zeitpunkt erfolgte die Hilfe? Eidesstattliche Erklärungen mussten abgegeben werden, Spuren wurde nachgegangen, die mitunter in weit entfernte Länder führten, teilweise mussten die Antragsteller mehrmals Rede und Antwort stehen. Dazu kam, dass die Bedenken auf Senatsseite, zu viel Geld (Höchstbetrag der finanziellen Hilfe: 1000 Mark!), und zu viele Beamtenstunden der Initiative zu „opfern“, besonders nach dem frühen Tod von Joachim Lipschitz 1961 zu teilweise grotesken Entscheidungen führten.

Während man beim Lesen einzelner Fälle nur mit ungläubigem Zorn reagieren kann, bleibt Dennis Riffel stets zurückhaltend und wissenschaftlich korrekt, sein schärfstes Verdikt ist, wenn er schreibt, eine Entscheidung sei „besonders schwer nachvollziehbar“. Wenn ein nicht verfolgter Ehepartner dem verfolgten Partner hilft, dann gilt dies als „selbstverständliche sittliche Verpflichtung“ und damit im Sinne der „Grundsätze“ als nicht geeignet für eine öffentliche Ehrung. Als hätte die Verwaltung noch nie davon gehört, dass viele nichtgefährdete Ehepartner sich auf Druck für eine Scheidung entschieden.

Nichts Besonderes für die Senatsverwaltung des Inneren war auch, dass Pastoren und Gemeindehelferinnen sich unter erheblichen Gefahren für Verfolgte einsetzten – das sei Teil ihres Berufs. Ausschließungsgründe waren zum Beispiel: Aktive kommunistische Tätigkeit oder die Bekämpfung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung oder allgemein „ehrenrühriges Verhalten“. Dazu wiederum konnte Homosexualität gehören oder ein „niedriges sittliches Niveau“. Dahinter verbarg sich zum Beispiel die Ablehnung einer Helferin, die Lebensmittel für versteckte Mitbürger auch durch Einkünfte aus ihrer Arbeit als Prostituierte besorgt hatte. Den Grund für ihre Ablehnung erfuhr diese Frau nie. Feige verbarg sich die Behörde hinter einem Vordruck, der die wahren Gründe für die Ablehnung verschleierte. Viel zu leicht verließ man sich überhaupt in einigen Fällen auf Urteile der Nazi-Justiz, um zu bestimmen, wer „ehrenrühriges Verhalten“ zeigte.

Dennoch ist Dennis Riffel zuzustimmen, wenn er in seiner Zusammenfassung schreibt, dass die Ehrungsinitiative „außergewöhnlich und einzigartig“ gewesen sei. So sollte es bis 1990 dauern, ehe zum Beispiel Frankfurt am Main Helfer zu ehren begann, erst mehrere Jahre nach dem Ende der Berliner Ehrungen, in den 70er Jahren, begann die Bundesregierung Helferinnen – es waren übrigens tatsächlich mehr Frauen als Männer – und Helfer mit dem Bundesverdienstkreuz auszuzeichnen. Berlin war der Gedenkkultur in Deutschland um Jahre voraus. Riffels Untersuchung und die umfangreichen Berliner Akten können nun wiederum benutzt werden bei der Einrichtung der Gedenkstätte „Stille Helden“, die in Berlin in der Rosenthaler Straße 39 geplant ist. Hier befand sich auch die Blindenwerkstatt von Otto Weidt, einem weiteren „unbesungenen Helden“, der in seiner Bürstenbinderei Juden vor der Deportation retten konnte.

Rezensiert von Maximilian Preisler

Dennis Riffel: Unbesungene Helden. Die Ehrungsinitiative des Berliner Senats 1958 bis 1966
Metropol Verlag, Berlin 2007
277 Seiten, 19,00 Euro