Fröhliche Enteignung

Von Sophie Dannenberg |
Als ich letztens an der Berliner Nationalgalerie vorbeiging, rasten mir drei kleine Skater in die Arme. Sie übten gerade den "Fakie 180" und den "Varial Kickflip", wie sie mir erklärten. Ich fragte sie, was sie sonst so treiben. Die drei waren irgendwo zwischen elf und 14 und guckten schüchtern und etwas verfroren durch den Rauch ihrer Zigaretten. Also, wir malen, sagten sie.
Ach, fragte ich, was denn? Na ja, sagten sie, zum Beispiel KON, SAB, TBK. Wie jetzt, fragte ich, ihr malt Buchstaben? Ja, sagten sie, meistens "taggen" wir, manchmal "bomben" wir auch oder machen "outliner". Was heißt das, malt ihr in Öl?, harkte fragte ich nach. Nee, belehrten sie mich, wir sprühen - als Crew.

Die drei waren also Graffiti-Sprüher. Das zackige, schwarze Netz aus Buchstaben, das sich durch unsere Städte zieht, über Wände und Denkmäler, stammt von Kerlchen wie diesen. Sie klärten mich auf. Eine Crew ist eine Gang, ein tag ist ein Namenskürzel, ein "outliner" ist der Umriss einer Buchstabenfolge, bei einem "bombing" wird sie ausgemalt.

KON, SAB und TBK sind die Kürzel der Crews in ihrer jeweiligen Zusammensetzung. Irgendwo in meinem Hinterkopf geisterte noch die Vorstellung von hochbegabten, aber vernachlässigten Kindern, die mit Graffiti an die Erwachsenen appellieren, weil sie dringend Hilfe, Anerkennung und Förderung brauchen.

Ich fragte die drei. Wollt ihr jemanden ärgern, oder tun euch die Leute manchmal leid, denen ihr die Wände bemalt und die das alles wieder wegschrubben müssen? Wollt ihr mal groß rauskommen? Seht ihr euch als Künstler? Die drei starrten mich verdattert an und schnippten ihre Kippen weg. Nee, sagten sie, wir wollen bloß coole Wände finden. Wo man draufsprühen kann. Dann sprangen sie wieder auf ihre Skateboards und bretterten davon.

Da stand ich nun. Von wegen Rebellion, von wegen Kunst. Alles offenbar nur Gerede von Streetworkern, die in romantischer Verklärung aus kleinen Sprühern große Künstler machen wollen, oder wenigstens grausam Unterprivilegierte. Eine sozialpädagogische Erlöserphantasie, mehr also nicht.

Aber was muss mich das Innenleben dieser kleinen Sprüh-Fuzzis kümmern? Muss ich entzückt sein über ihre Buchstaben - KON, SAB, TBK, KON, SAB, TBK - und deren Wiederholung auf jeder Parkbank, jeder Mauer, jeder U-Bahntür? Ist das kreativ? Oder originell? Bin ich ein besserer Mensch, wenn ich das super finde? Bin ich dann irgendwie total sozial? Müssen mich die Ergüsse verkiffter Kids begeistern, die den Lebensraum ihrer Mitmenschen usurpieren? Denn was hier stattfindet, ist ein öffentlicher Putsch gegen den Rest der Welt, gegen das Gemeinwohl, ein konsequent betriebener Strukturwandel der Öffentlichkeit.

Das, was jede Gesellschaft ausmacht, sowohl die bürgerliche als auch die sozialistische, nämlich nicht nur für sich und seinen Besitz, sondern auch für die Stadt und die Gemeinschaft Verantwortung zu tragen, verschwindet. Die Öffentlichkeit wird statt dessen zum generalisierten Mülleimer. Jeder kann hier mal so richtig die Sau rauslassen, sich so übergeben, dass allen anderen schlecht wird. Bislang hatte ich vermutet, die Bejahung von Graffiti sei jener Lass-es-raus-Mentalität fanatisch toleranter Mitarbeiter der Inneren Mission geschuldet, die es ja auch hin und wieder geben muss. Aber das ist es nicht.

Es geht nicht um Tröstung oder Heilung verwundeter Seelen, es geht auch nicht um bunte Schönheit. Es geht um Macht. Hier soll unter dem Sprühnebel der Selbstverwirklichung ein Prozess der Enteignung durchgeführt werden. Ein Graffiti ist wie der Kuckuck des Gerichtsvollziehers. Das Besprühte gehört nicht länger der Gemeinschaft, sondern dem Sprüher. Der Sprüher okkupiert den öffentlichen Raum. Damit wird die Civitas wie im Handstreich privatisiert. Graffiti ist der Fehdehandschuh, den das aufgeblähte Individuum der Gemeinschaft ins Gesicht schleudert.

Private Bedürfnisse werden gegen die Öffentlichkeit durchgesetzt, gemeinsame Wahrnehmungsstrukturen zerstört. Graffiti schafft vorzivilisatorische Zustände. Seine Utopie ist das Vergessen und die Unordnung. Es gibt keine Vergangenheit, keine Zukunft, nur eine durch und durch autistische Leitkultur: Spaß und Befreiung - der Krieg aller gegen alle. So, wie nach großen Katastrophen die Plünderer marodierend durch die Ruinen ziehen, ziehen die Sprüher durch unsere Städte. Ihre Graffitis sind Grabgemälde - einige vollendet schön.

Praxiteles und Michelangelo verwirklichten einen historischen Auftrag. Die Sprüher handeln in eigener Sache. Kunst ist öffentlich seit der Antike, das ist wahr, aber keiner hätte je gewagt, die Agora auf eigene Faust neu zu gestalten. Die Götter hätten ihn zermalmt. Immer war Kunst Hingabe an etwas Größeres. Jeder, der dem David von Michelangelo begegnet, begreift, dass er das sinnliche Gedächtnis Europas bewahrt. Graffiti aber ist das Après. Graffiti kommt, wenn nichts mehr kommt.


Sophie Dannenberg, geboren 1971 in Gießen, studierte Philosophie und Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaften in Bayreuth sowie Theaterwissenschaft in Berlin, wo sie auch lebt. 2004 veröffentlichte sie den Roman "Das bleiche Herz der Revolution" über die Kinder der 68er.