Frisuren

Haar ist nicht harmlos!

Punker in Berlin
Ein Punker in Berlin © picture alliance/dpa/Foto: Maurizio Gambarini
Von Kerstin Hensel · 09.11.2016
"Gewaltsam werde ich mich zum Frisör zwingen müssen", notierte Sigmund Freud auf einer Postkarte an sein Frau Martha, 1901, von einer Reise nach Italien. Offenbar war ihm sein Haupthaar so wichtig wie sein Gründerzeit-Vollbart. Am Haar hängt mehr, als wir denken, meint Autorin Kerstin Hensel.
Mit 15 habe ich mich zum ersten Mal befreit. Und zwar von meinen Haaren, die in Form einer Mireille-Mathieu-Schüttelfrisur meine Zugehörigkeit zur sittlich und politisch braven DDR-Arbeiterschaft zeigen sollten. Das Subversive von Kunst und Leben entdeckend, verteufelte ich fortan Mutters Schlager- und Brennscherenwahn, schnitt mir die Haare ratzekurz und zeigte der Welt: Ich will kein liebes Mädchen mehr sein. Mit der Stutzung machte ich mich unattraktiv für gewöhnliche Blicke, zum Spott der Spießer, zur Außenseiterin.
Seit der Neandertaler sein Ganzkörperhaarkleid abgelegt hat, versucht Homo sapiens sein Resthaar (Kopf, Bart, Scham) zu kreieren: mittels Formen, Färben, Flechten, Föhnen, Bleichen, Pudern, Kräuseln, Glätten, Scheren, Scheiteln, Zupfen, Auffüllen, Rasieren, Trimmen, Toupieren oder Ondulieren. Zum Zeichen seiner Attraktivität, seiner Machtposition, beziehungsweise um seinen Status in einer bestimmten Gruppe zu signalisieren.
Haar ist nicht harmlos.
Mit seiner Frisur zeigt man sich zugehörig, grenzt sich ab, verweigert sich. Oder sie wird Markenzeichen: wie bei Mireille Mathieu, Napoleon oder Elvis Presley. Selbst der zur Glatze geschorene Kopf glänzt mit Bedeutung: der buddhistische Mönch demonstriert seine Abkehr von irdischen Gelüsten, dem Skinhead ist sie im Kampf ein Schädelschild; die Intellektuellenglatze bemüht sich, sexy zu sein.

Das Haar als erotisches Signal

Die Bedeutung des Haares, die bis ins Mystische reicht, begründet sich hauptsächlich in seiner Eigenschaft als erotisches Signal. Vor allem bei Frauen. Wo weibliche Erotik sichtbar ist, liegt männliche Angst nahe. Was Angst macht, muss aus den Augen, das heißt aus dem Sinn. Die Devise ist nicht neu. So wurden – stets von Männern befohlen – im mittelalterlichen Europa "Hexen" der Schädel geschoren; in der Gotik mussten Ehefrauen ihr Haar unter Schleiern und Hauben verbergen. Orthodoxe Jüdinnen haben bis heute die Pflicht zur Haarverhüllung.
Das Bigotte dabei: Ist ihnen das Kopftuch zu banal, setzen sie ihrem Haar zusätzlich Perücken auf. Selbstverständlich koschere, die "Scheitelmacherinnen" aus Osteuropa importieren. Perücken als Prestigeobjekte, unter denen sich die stolze Gehorsame das Hirn ausschwitzt, nur um sittsam, das heißt "für andere Männer unauffällig" zu bleiben.
Djilhab, Tschador, Burka und wie die muslimischen Verhüllungsschwestern alle heißen – auch sie sollen begehrliche Männerblicke bannen. Im Namen des Talmud, des Korans und der heiligen Schrift! Ver- und Enthüllung aber gehören seit Menschengedenken zum schönen Spiel der Geschlechter. Wie schnell gerät ein Spiel zum Krieg, wenn starrer Glauben, männliche Machtlust und über Jahrtausende eingebläute Angst die Hauptrollen übernehmen.

Sitzt im Bart der Intellekt des Mannes?

Zeig mir dein Haar, und ich sage dir, wer du bist. Das Gleiche gilt für den Bart. Der Bart als Zeichen der Zeugungsfähigkeit, hergerichtet als ästhetische Größe oder Religionsaushängegebilde. Im Bart, behauptet der orthodoxe Glaubensmann, sitzt der Intellekt des Mannes – das sei der Grund, warum Frauen kein Bart wächst. Voilà!
Im Islam hält man einen Kerl, der sich rasiert, für ein Weichei, die Rasur selbst als Verstümmelung. Der Bart als Balzjoker, als religiöses oder politisches Bekenntnis, als Phänomen der Mimikry: So tragen heute immer mehr europäische Jungmänner Bart nach orientalischer Art. Warum? Ist es Symbol der "Willkommenskultur"? Ein stilles Bekenntnis zum Islam? Ein Spiel mit der Nostalgie oder albere Macho-Mode? Biologisch zählt Barthaar übrigens zum Schamhaar.
Apropos! Gegenläufig zur Vollbartfashion lautet der neuste Schrei der westlichen Zivilisation: die Intimrasur, nach deren Vollzug das männliche Glied einem Grottenolm ähnelt und sich erwachsene Frauen mit glattrasierten Mösen wie kleine Mädchen präsentieren. Wahrlich: Wir leben in haarigen Zeiten.

Kerstin Hensel: Jahrgang 1961, geboren in Karl-Marx-Stadt, Autorin von Romanen, Gedichten, Theaterstücken, Essays. Sie arbeitet als Poetik-Professorin an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" in Berlin. Mehr Infos unter: www.kerstin-hensel.de



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