Frischer Abfall

Von Godehard Weyerer · 23.12.2008
Frische Ware kann schnell frischer Abfall werden. Jahr für Jahr landen Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll. Speisereste, Lebensmittelabfälle, Frischwaren mit abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum, eine ganze Lkw-Ladung, weil das Kühlaggregat ausgefallen ist. Die Beispiele lassen sich fortsetzen, der Weg der Nahrungsmittel- und Speiseresteverwertung lässt sich weiterverfolgen. Beispiel Münster. Auf den Spuren der Konsumabfälle.
Sieben Uhr morgens. Die beiden Lkw verlassen den Firmenhof der Bielefelder Speisereste-Verwertung. Am Steuer sitzt Siegfried Wißbrock.

"In der Regel waren wir zwei Touren pro LKW und Tag."

Manchmal fährt der Chef noch selbst. Sechs Kubikmeter Essenreste passen in den Aufbau hinter dem Führerhaus.

"Jetzt fahren wir zum Restaurant Bradweder Hof, zu diesem Kunden fahren wir zweimal wöchentlich. In der Regel schmeckt es den Gästen da sehr gut, Ja wollen mal sehen."

Siegfried Wißbrock steuert den LKW rückwärts auf den Restaurant-Parkplatz.

"Tachchen. Hat der einen anderen Standort?"

Der Küchenchef kommt heraus und begrüßt ihn. Beide gehen zur Garage. Zwei hellgrüne Tonnen stehen hier, Fassungsvermögen jeweils 240 Liter, prall gefüllt mit den Essenresten der letzten Woche.

Braune Salatblätter quillen unter dem Deckel hervor; dazu eine in Ketchup getunkte Curry-Wurst, vermengt mit gammeligem Kartoffelbrei und einer undefinierbaren Vorspeise; ein halbherzig abgenagtes Kotelett in ranziger Blumenkohl-Sause. Der Weg von der Konsum- zur Wegwerfgesellschaft ist kurz. Und die Speisereste riechen so, wie sie aussehen.

"Die Tonne ist jetzt leer. Ich gehe jetzt hoch und reinige den Behälter. Dann kommt er wieder an seinen Standort."

Siegfried Wißbrock nimmt den Hochdruckreiniger in die Hand. Warmes Wasser spült die zurückgebliebenen Speisereste in den Lkw-Behälter. Vor dem Wasserdampf und vor den fein zerstäubten Wasserpartikeln, die aus der Tonne zurückspritzen, sucht der Küchenchef Schutz in der Garage. Im Winter, erzählt er, würden immer etwas mehr Essenreste anfallen als in den übrigen Monaten.

Küchenchef: "Denn in den Wintermonaten, November, Dezember, die ganzen Weihnachtsfeiern und so, ist für uns das Hauptgeschäft, da sind die Speisereste entsprechend groß. (…) Alles, was nicht am Büfett verzehrt wird, muss weggeschmissen werden, darf nicht noch mal verwendet werden. Das tut weh. Man muss halt die Portionen so bemessen, dass man möglichst wenig Abfälle hat. Das ist auch immer ein Wirtschaftsfaktor."

Vorbei die Zeiten, als sich hinter jedem Gasthaus noch ein Schwein an den Speiseresten labte und eines nicht so fernen Tages geschlachtet und zerlegt wieder auf den Tellern der Gäste landete. Dass diese Direkt-Verwertung der Essenreste nicht mehr erlaubt ist, kommt Kleinunternehmern wie Siegfried Wißbrock zupass. Er verabschiedet sich vom Küchenchef. Nächste Woche fährt er mit seinem 7,5-Tonner wieder vor.

"Bis die Tage dann."

Jahr für Jahr landen Unmengen an Lebensmitteln im Abfall. Speisereste, Lebensmittelabfälle, Frittierfette aus gewerblichen Großküchen, aus Restaurants, Altenheimen, Kantinen oder Krankenhäusern. Frischwaren mit abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum, beschlagnahmte Zollwaren, ganze Lkw-Ladungen, weil das Kühlaggregat ausgefallen ist.

Allein bei uns in Deutschland sollen es fast zwei Millionen Tonnen sein – nach Schätzung des Bundesverbandes Nahrungsmittel- und Speiseresteverwertung, in dem Siegfried Wißbrock Mitglied ist. Im Hauptberuf ist er Landwirt. Am Stadtrand von Bielefeld, in Senne, steht der Bauernhof von Siegfried Wißbrock - eine Schweinezucht mit 500 Tieren. Daneben zwei große Hallen, rot geklinkert mit großen, grauen Roll-Toren. Dort werden Speisereste gesammelt, zerkleinert, verwertet.

"Hier kommen unsere Fahrzeuge angefahren. Fahren rückwärts vor den Entladetrichter vor, entleeren den Tank. Mit dieser Förderschnecke werden die Speisereste dann in den Zwischenlagerbehälter gefördert. Von da aus wird über das Entnahmerohr und der Zerkleinerungspumpe dieser Behälter gefüllt, da wurden früher die Speisereste erhitzt."

Früher: Das war bis vor zwei Jahren. Da wurden im Betrieb von Siegfried Wißbrock die Speisereste erhitzt, eine Stunde lang auf 90 Grad Celsius, um Keime und Krankheitserreger abzutöten. Im Anschluss daran wurden die Essenreste an Schweine verfüttert - entweder an die eigenen oder an die Schweine anderer Bauern. Seit dem 1. November 2006 ist das verboten. Wegen der Seuchengefahr. Seither wandern die Speisereste in Biogas-Anlagen.

"Speisereste sind ein hochwertige Energieträger. Die Energie wird zwar irgendwie in den Biogas-Anlagen auch in Wärme und Strom verwandelt, aber die Proteine werden alle vernichtet, die sind früher dem Tier zugute gekommen. Dafür werden an anderer Stelle der Welt die Regenwälder abgeholzt, um da dann da Sojaschrot anzubauen für die Tiere in Europa, für die Schweine und Rinder."

Das Rad der Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. So sind nun einmal die Bestimmungen, an die sich Siegfried Wißbrock zu halten hat. Und er hofft, dass er eines Tages die Speisereste wieder an seine Schweine verfüttern darf.
Hans-Helmut Jostmeyer, der Veterinärarzt, kommt auf den Hof. Wie immer unangemeldet.

"Hallo Herr Jostmeyer.
Hallo Herr Wißbrock. Halbes Jahr wieder vorbei. Ja, am besten gehen wir mal rein.
Hat sich was verändert?"

Stellt das Verbot, Speisereste an Schweine zu verfüttern, in den Augen des Veterinärs eine sinnvolle, hygienische Ergänzung dar oder hat auch seiner Ansicht nach der Gesetzgeber da ein wenig zuviel des Guten gewollt?

Jostmeyer: "Ach, das ist meiner Meinung schon ein bisschen über das Ziel hinausgeschossen, weil gerade in Deutschland die Erhitzung der Speisereste zum Schutz von Schweinepest und Maul- und Klauenseuche sehr weit fortgeschritten war. Aber es war ein politischer Beschluss innerhalb der EU, dass man dieses Risiko gänzlich ausschließt und daher der Speiseresteverfütterung ein Ende bereitete."

Geregelt wird das Verbot in der EU-Verordnung mit dem sperrigen Namen 1774 aus 2002, ein 134 Seiten umfassendes Werk über tierische Nebenprodukte, zu denen die EU-Kommission auch Speisereste zählt. Gegen diese Verordnung läuft der Bundesverband der Nahrungsmittel- und Speiseresteverwertung Sturm. Dem Verband gehören 90 mittelständische Betriebe an. Für Siegfried Wißbrock und seine Kollegen war es nicht nur aus unternehmerischer Sicht sinnvoller, Speisereste an Schweine zu verfüttern. Jetzt, da die Essenreste in Biogas-Anlagen vergären, müssten als Futterersatz 400.000 Tonnen Weizen und Gerste sowie 100.000 Tonnen Sojaschrot importiert werden. Außerdem sei mit Lebensmittelhygieneverordnung, Kreislaufwirtschaftsgesetz und Gewerbeabfallverordnung, mit Desinfektionskontrollbuch und Hygieneplan die Speisereste-Verwertung schon immer ein hochsensibler Bereich gewesen, den Veterinärärzte wie Hans-Helmut Jostmeyer regelmäßig und penibel kontrollieren.

"Das Desinfektionsdurchfahrbecken gucke ich mir an. Die Reinigungseinrichtung für die Reifen, denn wir wollen, dass der Wagen nach der Entleerung mit sauberen Reifen den Hof verlässt, weil die Fläche hier innen drin natürlich mit Speisereste leicht verunreinigt sein kann, auch wenn der jetzige Zustand das nicht erkennen lässt."

Im Durchfahrbecken, das im Betonboden vor der Hallenausfahrt eingelassen ist, steht das Wasser ein paar Zentimeter hoch. Hier rollen die Räder durch, wenn der Lkw die Halle verlässt. Auf Anordnung des Veterinäramtes, bei Schweinepest oder Maul- und Klauenseuche, muss Siegfried Wißbrock das Wasser mit einem speziell geprüften Desinfektionsmittel anreichern.

Viermal in der Woche fährt ein Sattelzug auf den Hof von Siegfried Wißbrock, rollt rückwärts in die Halle, pumpt den 30-Kubikmeter-Behälter leer und bringt die zu Brei verrührten Speisereste in die 130 Kilometer entfernte Münsterländische Verwertungsanlage von Gerd Peek, der zusammen mit einem Kompagnon eine moderne Biogas-Anlage betreibt.

Peek: "Verarbeitet werden hier am Tag ca.100 Tonnen Input-Stoffe, davon momentan 70 bis 75 Prozent Speisereste oder Abfälle aus der Lebensmittelproduktion."

Die Speisereste werden in eine 800 Kubikmeter große Grube gepumpt, auf 70 Grad erhitzt, um Keime, Pflanzenzellen und Krankheitserreger abzutöten. Das passiert in der Annahmehalle. Daneben stehen in Reih und Glied vier monströse kreisrunde, flache Tanks, wie man sie von Erdöl-Raffinerien kennt, die mit ihren grünen, in der Mitte spitz zulaufenden Planen aber ebenso gut an Zirkuszelte erinnern.

"Das sind die sogenannten Fermenter, die auf unserer Anlagen ein Fassungsvermögen von 5000 Kubik haben, sind isoliert, werden aufgerührt und beheizt auf 40 Grad, das ist der Bereich, in dem wir hier Gas produzieren."

Aus den erwärmten Speiseresten entweicht Gas. Bio-Gas. Mit dem Gas werden Generatoren angetrieben, die Strom erzeugen. Die Anlage von Gerd Reek hat eine Leistung von zwei MW – vergleichbar mit einer größeren Windkraftanlage. Bei der Stromerzeugung geben Generatoren Wärme ab. Damit werden die Speisereste erhitzt und die Fermenter beheizt. Der Überschuss wird über Blockkraftheizwerke in ein Fernwärmenetz eingespeist, an dem die Schule, der Kindergarten, das Pfarrheim und die Kirche am Ort angeschlossen sind. Biogas-Anlagen können mit Speiseresten betrieben werden, ebenso mit Schweinegülle, Rindermist, Mais, Gras oder mit Zuckerrübenschnitzel. Wichtig ist der Biogas-Ertrag der jeweiligen Substrate. Bio-Abfälle, also Speisereste, liegen im da oberen Drittel.

"Nach einer Verweilzeit in den ersten beiden Stufen von 60 bis 70 Tagen läuft es über in den Nachgärer; von da läuft es über in das Endlager, der vierte Behälter, auch 5000 Kubik, den halten wir vor, weil der Gär-Rest, der dort abkühlt und als hochwertiger Dünger abgegeben wird, vornehmlich im Winter gelagert wird."

Von 100 Tonnen Speisereste, die in Biogas-Anlage abgeliefert werden, bleiben am Schluss 80 Tonnen über, die an Landwirte abgegeben werden. Die Lebensmittel, oder besser gesagt, die Reste davon, landen ergänzend zu Gülle und High-Tech-Chemie-Pellets auf den Feldern und schrauben den Ernteertrag in die Höhe. Ein Kreislauf schließt sich - so wie bis vor zwei Jahren, als unsere Essenreste direkt an Schweine verfüttert werden durften. Zumindest die knapp zwei Millionen Tonnen aus gewerblichen Großküchen. Was vom Esstisch zuhause und aus privaten Kühlschränken in der schwarzen Restmülltonne landet, endet in Müllverbrennungsanlagen. Das Marktforschungsinstitut GfK schätzt, dass zehn Prozent der gekauften Lebensmittel weggeschmissen werden - Lebensmittel im Wert von 15 Milliarden Euro.

Szenenwechsel.

Rund 800 Tafeln gibt es in Deutschland. Sie haben sich zusammengeschlossen im Bundesverband Deutscher Tafeln. Fast alle großen Lebensmittelhändler arbeiten mittlerweile mit den Tafeln zusammen. 100.000 Tonnen erhalten und verteilen sie pro Jahr an bedürftige Menschen. Die Tafel in Bremen gründete sich 1993, sie war damals eine der ersten in Deutschland.

"Denken Sie bitte daran beim nächsten Mal?
Ja, ja, ich habe es schon hingelegt."

Kurz nach eins. Grelles Neonlicht im Warteraum. Schlichte Stühle vor weißgetünchten Wänden. Die Bremer Tafel öffnet ihre Türen.

"Das Geld im Kasten klingt so.
Moin. Moin."

30 Menschen stehen in der Schlange, ihren Berechtigungsschein in der Hand und halten einen Euro parat. Das Eintrittsgeld.

"Tag Herr Wilhelm. Moment eben."

Zwei Mitarbeiter der Bremer Tafel tragen jeden, der kommt, in eine Liste ein. Einmal pro Woche dürfen die Leute hierher kommen. Geöffnet ist von 13 bis 16 Uhr, täglich von Montag bis Freitag. Hinter der Eingangstür führen drei Stufen und eine rollstuhlgerechte Rampe hinab in den Abholraum – eine triste Lagerhalle, Linoleumboden, hohe, kahle Wände, ausrangierte Ladenregale, die täglich aufgefüllt werden mit Fertiggerichten, Konserven, Milchprodukten, Obst, Gemüse, Backwaren und Brot.

"Ein Toastbrot, dunkel oder hell? Ein helles. Bitte schön. Und was hätten Sie noch gerne? Das ist alles. Bitte schön. Einmal Vollkorn-Toastbrot. Dankeschön."

Das Brot spenden Bäckereien. Ware von gestern. Oder es sind eingepackte Backwaren, die in zwei, drei Tagen ablaufen. Die Lieferwagen der Bremer Tafel holen es Tag für Tag von den Spendern oder aus den Supermärkten ab.

Splettstößer: "Es ist ja die Praxis heute so, dass die Supermärkte die Regale kontrollieren, und was nur noch zwei, drei Tage Vorlauf hat vom Datum her, das nehmen die Leute nicht mehr."

Nehmen die Leute im Supermarkt nicht ab, nicht aber in der Bremer Tafel.

"Da müssen wir uns alle selber an die Brust fassen. Wenn wir einkaufen gehen, was machen wir? Wir gucken auf das Datum. Wenn es nur noch zwei Tagen sind, schieben wir es weg und nehmen etwas, was angeblich noch länger haltbar ist Das wird aussortiert und dann für uns bereit gestellt."

Oskar Splettstößer hat die Bremer Tafel vor 15 Jahren mit aufgebaut. Heute ist er im Ruhestand, macht die Vorstandsarbeit ehrenamtlich.

"Was mehr sein müsste, wären Milchprodukte wie Butter, Käse. Wurstwaren auch. Das könnte mehr sein. … Da kommt zu wenig rein, da wird wohl so gut disponiert von den Ketten, dass da entsprechend wenig übrig bleibt. Ich weiß es nicht."

Ware, bei der das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten ist, nimmt die Bremer Tafel nicht an. Ein Auge zugedrückt wird bei Konserven - aber auch erst nach eingehender Kontrolle. Draußen ist gerade ein Lieferwagen vorgefahren.

"Ja, das Fahrzeug ist es gerade vier Wochen alt. Das ist eines der Neuen. Hallo.
Hallo Oskar.
Ja das ist alles mögliche. Obst, Gemüse, Backwaren wohl kaum. Wo kommt die Ware her?
Zweimal Lidl, einmal Extra-Markt, ein Realmarkt im Weserpark. Die Tour wird täglich angefahren, das ist die Tour drei, die wöchentlich von Montag bis Freitag angefahren mit unterschiedlichem Ertrag. Heute zum Beispiel war eine Neueröffnung eines Lidl-Marktes, da wird heute und morgen mehr kommen. Heute nichts."

Der Gabelstapler kommt herangefahren, hebt die Palette mit der Ware aus den Supermärkten an und bringt sie in die Halle. 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bremer Tafel sortieren dort die eingehende Ware.

Splettstößer: "Hier zum Beispiel ist ein Netz mit Mandarinen, da ist sicher eine Mandarine nicht mehr in Ordnung. Da wird heute vom Supermarkt nicht mehr das Netz geöffnet aussortiert, sondern eben komplett entsorgt. Personalmangel. Da ist anscheinend billiger. Wir machen das noch, wir öffnen das Netz, nehmen die eine raus und die anderen werden gerne weiter gegeben."

An Bedürftige, sonst würden die Nahrungsmittel, obwohl noch in einwandfreiem Zustand, im Abfall landen. Auch die rund 100.00 Tonnen, die die knapp 800 Tafeln in Deutschland verteilen. In die Räume der Bremer Tafel kommen täglich rund 250 Menschen. Mit Plastiktüten, Einkaufswagen und Körben. Einmal pro Woche dürfen sie sich hier gratis mit Lebensmitteln eindecken. Sie alle sind Hartz-IV-Empfänger.

"Ich habe heute – wie jeden Tag - meine ausgelesene Zeitung hergebracht und gehe mir dann gleich was holen. Brot, Kuchen Gemüse, Obst. Sonst nichts."
Lebensmittelverteilung an Bedürftige in München
Lebensmittelverteilung an Bedürftige© AP