Mitverantwortung und Mittäterschaft in Russlands Krieg

Wirft Putin die Bomben?

Silhouette eines Panzers vor nebelig dunklem Hintergrund
Sind Putins Soldaten Opfer des Systems oder könnten sie auch anders handeln? Der Philosoph Jörg Phil Friedrich geht dieser Frage nach. © Getty Images / Jasmin Merdan
Überlegungen von Jörg Phil Friedrich · 07.04.2022
Putin wirft Bomben, Putin überfällt die Ukraine: Das ist derzeit oft zu hören. Aber natürlich betätigt nicht Putin selbst den Abzug, sondern seine Soldaten und andere, die auf sein Geheiß hin handeln. Wie groß ist ihre Mitverantwortung?
Seit die russische Armee die ukrainische Grenze übertreten hat, wird hierzulande auch über Formulierungen gestritten. War es Putin, der das Nachbarland überfallen hat, oder ist der russische Staat der Aggressor?
Klar ist: Es gehören viele Menschen dazu, einen Krieg zu führen. Seien es die Generäle, die die Taktik planen, sei es die Nachrichtensprecherin, die Falschmeldungen verliest, oder sei es der Soldat, der den Panzer steuert. Sie alle treffen konkrete Entscheidungen, handeln und tragen damit zum Angriffskrieg, zur Zerstörung und zum Sterben bei.
Wer aber meint, alle diese Menschen könnten auch anders handeln und damit den Überfall sofort stoppen, verkennt die Machtstrukturen in einer Diktatur: das Geflecht aus Gewalt und Angst, Lüge und Misstrauen, welches einen diktatorischen Herrscher und seine Clique von Mittätern und Verbrechern an der Macht hält.

Gefühlte Unentrinnbarkeit des Machtsystems

Es ist immer eine einzelne Person, die sich einer funktionierenden Maschinerie gegenübersieht und die sich zum Widerstand, zur Verweigerung des Gehorsams auf eigenes Risiko entscheiden muss, ohne zu wissen, wie die anderen auf dieses Handeln reagieren werden.
Die gefühlte Unentrinnbarkeit des Machtsystems, die Angst ums nackte Überleben oder um die soziale Existenz und das organisierte Misstrauen gegen alle und jeden macht die Beteiligten zu bloßen Werkzeugen des Diktators. Insofern ist es letztlich richtig, zu sagen, dass es Putin ist, der die Ukraine angegriffen hat, dass er Krankenhäuser und Wohnsiedlungen bombardiert, dass er Einwohner von Großstädten aushungern will.
Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass jeder Mensch selbst für seine Handlungen verantwortlich ist. Allerdings steht es mir, der ich in der angenehmen Behaglichkeit meines Homeoffice diesen Text schreibe, nicht zu, über den russischen Soldaten im Panzer zu richten, der gerade in Mariupol ein Wohnhaus zerstört. Ja, er hat eine Wahl, er trifft eine Entscheidung, aber jetzt, in diesem Moment, heißt die Entscheidung für ihn: schießen oder selbst sterben. Das gilt ebenso für seinen Kommandeur, der den Befehl zum Vordringen in die Stadt gab, es gilt ähnlich für die Nachrichtensprecherin im Staatsfernsehen, die weiß oder ahnt, dass sie Lügen verbreitet.

Freie Entscheidungen, die in die Unfreiheit führen

Was ich tun kann, ist, mich zu fragen, was ich an Stelle dieser Menschen tun könnte und tun würde. Würde ich mich selbst belügen, mich vor mir selbst damit rechtfertigen, dass ich ja gar nicht sicher wüsste, was richtig oder falsch ist? Würde ich aus Angst vor den existenziellen Konsequenzen, die eine Verweigerung für mich hätte, einfach tun, was man von mir verlangt? Oder würde ich, wenigstens im Verborgenen, nach Verbündeten suchen, um Widerstand zu organisieren?
Die Wahrheit ist: Ich weiß es nicht. Und deshalb muss ich noch einen Schritt weiter gehen und fragen: Was hat all diese Menschen, die jetzt aus Angst, durch Einschüchterung, Verblendung und Lügen zu bloßen Werkzeugen des Diktators geworden sind, dahin gebracht, welche freien Entscheidungen in ihrem Leben haben sie in die faktische Unfreiheit geführt?

Der Soldat im Panzer hat kaum eine Wahl

Der einfache Soldat, der jetzt im Panzer sitzt und den Schuss auslöst, hatte kaum eine Chance, sich anders zu entscheiden. Aber wann hätte der General auf eine weitere Karriere verzichten können, um nicht im Angriffskrieg Befehle geben zu müssen? Wann hätte die Nachrichtensprecherin sich noch eine andere Arbeit suchen können, um keine weiteren Lügen verlesen zu müssen?
Die Verstrickung ins System beginnt mit Kompromissen und kleinen Vorteilen, mit dem Wegsehen und Mitmachen im Alltag. Den Moment nicht zu verpassen, in dem man noch aussteigen kann, das ist die Verantwortung und die eigene Freiheit, die jede Person hat.

Jörg Phil Friedrich, geboren 1965, ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts der Philosophie. Er ist Mitbegründer des Softwarehauses INDAL in Münster und lebt bis heute von der Softwareentwicklung und vom Schreiben philosophischer Texte. Zuletzt erschien sein Buch „Ist Wissenschaft, was Wissen schafft?“ (Alber 2019).

Porträtaufnahme von Jörg Phil Friedrich.
© Heike Rost
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