Friedrich Hölderlin in Tübingen

Ein Lebensabend im Turmzimmer

Von Matthias Kußmann · 07.06.2018
Er gilt als Begründer der modernen Lyrik: Friedrich Hölderlin verbrachte viele Jahre seines Lebens in Tübingen. Zuletzt lebte er in sehr beengten Verhältnissen in einem Turm.
Der junge Friedrich Hölderlin hat nur einen Wunsch: Schriftsteller zu werden. Doch seine pietistische Mutter will, dass er Pfarrer wird. 1788 schickt sie den 18-Jährigen zum Studium nach Tübingen. Er wohnt als Stipendiat im Evangelischen Stift.
Martin: "Das Evangelische Stift ist eine imposante vierflügelige Anlage am Rande der Altstadt von Tübingen, direkt am Neckar gelegen."
Beate Martin leitet Archiv und Bibliothek des Hauses. Wir stehen im Innenhof in einem Kreuzgang.
Martin: "1534 hat Herzog Ulrich in Württemberg die Reformation eingeführt. Dazu brauchte er gut ausgebildete Leute, Lehrer und Pfarrer, und er hatte die Idee, ein Stipendium zu gründen für alle begabten jungen Männer des Herzogtums. Es war eine große Chance für viele junge Männer, die sonst nie studiert hätten. Es war nur für die Theologen gedacht und es war ein Naturalstipendium: Essen und Wohnung frei, und wissenschaftliche Begleitung."
Auch heute wohnen hier junge Leute mit einem Stipendium, die Theologie studieren – inzwischen natürlich auch Frauen. Noch immer ist der Speisesaal Zentrum des Hauses. Ein großer, freundlicher Raum mit Fenstern zum Fluss und etwa 30 Tischen.

Schweigen und beten

Martin: "Zu Hölderlins Zeiten war das so: Beim Essen sollte geschwiegen werden, man las aus der Bibel vor oder vor allem wurde gepredigt. Und zwar haben die Stiftler während des Essens ihre Predigt-Übungen absolvieren müssen. Das haben sie nicht in der Stiftskirche gemacht, sondern hier während des Essens. Jetzt war das aber so, dass die Stiftler zu den anderen gesagt haben, seid auch schön laut, dass man es nicht hört, was ich hier predige!"
Ein kleiner Widerstand gegen die vielen Verbote und Strafen. Die Studenten haben kaum Freiheiten.
Martin: "Man durfte nicht schreien, nicht fluchen, nicht raufen, nicht trinken, Alkohol trinken – also, sie haben sehr viel getrunken. Man durfte nicht rauchen, man durfte nicht Schlitten fahren. Man musste die Vorlesungen fleißig besuchen und man musste fleißig in die Kirche gehen, dreimal in der Woche, was die Studenten natürlich oft vermieden haben."
Ein Lichtblick für Hölderlin sind seine Freunde Hegel und Schelling, mit denen er für die Französische Revolution schwärmt. Später werden sie berühmt: Hegel und Schelling als Philosophen, Hölderlin als Dichter. Deshalb wird ihr Zimmer heute oft "Geniezimmer" genannt.
Martin: "Das stimmt aber gar nicht. Damals war es noch kein Geniezimmer, es waren noch keine Genies. Und im letzten Studienjahr von Hölderlin wurde der ganze Trakt abgerissen. Und deshalb gibt es und gab es dieses Geniezimmer nie."

Heute verwalten die Studierenden das Haus mit und gestalten ihren Alltag frei, sagt deren Sprecherin Desirée Rupp. Nur ein kleines Problem gebe es.

Rupp: "Das Essen hier ist nämlich manchmal etwas anstrengend, weil wir genau 21 Minuten Zeit haben zum Essen. Dafür gibt es sogar einen Beschluss, den mal alle Stiftlerinnen und Stiftler zusammen gefasst haben. Und nach 21 Minuten müsste man quasi gegessen haben und sich irgendwie so organisiert haben, dass der Tagesablauf weitergehen kann."

Seine Krankenakten sind verschollen

Nach dem Studium will Hölderlin als Schriftsteller leben. Doch seine komplexen Gedichte und der Roman "Hyperion" finden kaum Leser. Er arbeitet als Hauslehrer, hat auch da keinen Erfolg. Er fühlt sich als Außenseiter, ist reizbar, aggressiv, dann wieder wie gelähmt. Ein Freund holt ihn nach Homburg, doch sein Zustand verschlechtert sich. Darum lässt ihn seine Mutter gewaltsam nach Tübingen bringen, in die Burse, ein ehemaliges Studentenwohnheim.
Tielsch: "Er war 36 Jahre alt, als er kam, im September 1806. Das Klinikum, in das er kam, hatte gerade neu eröffnet."
… sagt die Stadtführerin Elisabeth Tielsch. Das Gebäude gehört im Mittelalter zur Universität. Um 1800 wird es vom Arzt Johann Autenrieth zur Klinik umfunktioniert – mit einer psychiatrischen Abteilung. Hölderlin verbringt dort Monate, Autenrieth hält ihn für verrückt. Ob er tatsächlich geisteskrank war, lässt sich aus der Rückschau nicht sagen.
Tielsch: "Darüber gibt es viel Spekulation auch und immer wieder neue Theorien, was es denn gewesen sein könnte …"
… weil die Krankenakten verschollen sind. Erhalten sind nur Listen, die zeigen, dass er starke Beruhigungsmittel bekommt. Im Haus gibt es ein sogenanntes Irrenzimmer, ein Vorläufer der "Gummizelle".
Tielsch: "Das hatte Autenrieth, der Arzt, selbst entworfen. Die Fenster waren vergittert, der Ofen mit weiß gestrichenen Holzpalisaden umstellt, sodass die Kranken sich nicht verbrennen konnten – und so hieß es denn auch "Palisadenzimmer". Die Tür war mit Leder beschlagen, Fenster und Türkloben so verkleidet, dass es ausgeschlossen war, sich daran zu erhängen."

Unheilbar, aber nicht "gemeingefährlich"

Da Hölderlin sich gegen die Einweisung wehrt, ist es möglich, dass er in diesen Raum kommt, belegt ist es nicht. Nach 231 Tagen wird er als unheilbar, aber nicht "gemeingefährlich" entlassen. - Die Burse dient bis ins 20. Jahrhundert als Klinik.
Tielsch: "1970 zog die letzte Kliniknutzung aus in einen Betonbau, die Zahnklinik, damals ganz neu. Und seitdem ist hier Philosophie und Kunstgeschichte, also die Philosophische Fakultät der Universität Tübingen, mit Philosophie und Kunstgeschichte. Das heißt, da sind Seminarräume und Bibliotheksräume. In typischem 70er-Jahre-Ambiente ist man da."
Im Haus erinnert nichts mehr an Hölderlins Zeit. Draußen raucht ein Student eine Zigarette.
Student: "Die Burse ist für die Philosophen der Mittelpunkt ein bisschen des Studiums. Die meisten Vorlesungen und Seminare finden hier statt. Es gibt eine Mischung aus klassischen Kursen zu älteren Autoren, es gibt sehr viel modernere Forschung auch. Schöne Lernumgebung natürlich auch in dem älteren Gebäude, wo man ein bisschen noch die Historie von früheren Streits nachempfinden kann, und sich dann auf neue Streitigkeiten einlassen kann."
Als Hölderlin entlassen wird, gibt ihm der Arzt drei Jahre Lebenszeit. Daraus werden 36, die er in Pflege verbringt – im Haus des Tübinger Schreiners Ernst Zimmer.
Noack: "Er hat ihm im Turm im ersten Stock ein Zimmer eingerichtet. Links und rechts waren die Räume der Familie, unmittelbar angrenzend Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche. Also Hölderlin war richtig eingebettet in diesem familiären Gefüge."
Helge Noack leitet das Hölderlin-Museum, das sich heute in dem Haus befindet. Höhepunkt ist der Turm mit dem halbmondförmigen Zimmer des Dichters.

Das Gebäude brannte 1875 vollständig ab

Noack: "Wir schauen hier aus drei Fenstern, haben den Blick von Osten über Süden nach Westen, also können den Tagesablauf förmlich verfolgen. Hölderlin hatte die Natur vor Augen, die Weiden, die er auch in seiner Ode ‚Der Neckar‘ besingt. Es ist ein relativ kleines Zimmerchen. Tisch und Pult und Bett hatten hier ihren Platz, viel mehr aber auch nicht. Aber er hat sich hier sehr wohl gefühlt und war immer sehr verunsichert, wenn wegen Renovierung oder Putzarbeiten er den Raum und den Ort hier verlassen musste."
Wer im Hölderlin-Zimmer vor Ehrfurcht zittert, sollte freilich wissen:
Noack: "Wir sind zwar an einem authentischen Ort, wo wir stehen. Aber das Gebäude selbst ist ja nun leider nicht mehr authentisch. Das Haus ist 1875 bis auf die Grundmauern, wie es heißt, abgebrannt …"
… und wurde neu aufgebaut. Hölderlin lebt im Turm sehr zurückgezogen, geht stundenlang auf und ab. Besucher nennt er "Eure Majestät" und verbeugt sich tief. Er schreibt ganz einfache Gedichte, anders als früher; er datiert sie auf 1671 oder gar 1940 und signiert mit "Scardanelli" – für manche Zeitgenossen ein Zeichen seines Wahnsinns. Heute sieht man es anders.
Noack: "Er hat diesen Namen abgelegt, er hat sich die Menschen, die ihn in scheuer Ehrfurcht besucht und um ihn gewusst haben, vom Leib gehalten. Und er hat auch diese beengenden Grenzen der Zeit, in der er sich bewegt hat, abgelegt, in dem er diese Daten geschaffen hat."
Hölderlin stirbt am 7. Juni 1843. Sein Werk wird bald vergessen und erst im 20. Jahrhundert wieder entdeckt. Heute gilt er als ein Begründer der modernen Lyrik. Sein Grab befindet sich auf dem Tübinger Stadtfriedhof.
Noack: "Ein schlichter Sandstein. Das Schöne ist, wenn ich hier immer wieder vorbeikomme, zu sehen, was sich wieder geändert hat. Immer wieder kommen Hölderlin-Verehrer vorbei, legen was ab, einen kleinen Stein auf dem Grabstein selbst, legen eine Blume hin, zünden eine Kerze an. Jemand hat ein kleines Kunstwerk geschaffen aus einem Stein. Und so wird er immer wieder bis heute besucht von stillen Verehrern."
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