Friedrich für Phase der Konsolidierung in der EU

Moderation: Hanns Ostermann |
Vor der heutigen Rede zur Europapolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel im Bundestag hat der Vizepräsident des Europaparlaments, Ingo Friedrich, dazu aufgefordert, neue Erweiterungsrunden der Europäischen Union auf längere Zeit auszusetzen. Er gehe davon aus, dass die EU noch in diesem Jahrzehnt Bulgarien, Rumänien und Kroatien aufnehme, sagte Friedrich: "Aber dann brauchen wir in der Tat eine Phase der Konsolidierung."
Ostermann: Wie schafft man es, dass sich die Menschen mehr als bisher mit Europa identifizieren? Wie überzeugt man sie davon, dass nicht nur die Staaten wichtig sind, sondern auch die Union? Man kommt nicht daran vorbei: Es gibt eine Diskrepanz zwischen den Herausforderungen für den Kontinent und der Einstellung vieler. Hinzu kommt, dass nach der Ablehnung in Frankreich und den Niederlanden die gemeinsame Verfassung weiter auf sich warten lässt. Auf Finnland und Deutschland, die demnächst die Ratspräsidentschaft übernehmen, wartet also jede Menge Arbeit. Was im Einzelnen könnte heute die Regierungserklärung der Kanzlerin erahnen lassen. Am Telefon von Deutschlandradio Kultur begrüße ich Ingo Friedrich. Er ist Mitglied der Europäischen Volkspartei und Vizepräsident des Europäischen Parlaments. Guten Morgen, Herr Friedrich!

Friedrich: Guten Morgen!

Ostermann: Mehr Europa brauchen wir nicht, das denken jedenfalls viele. Wie wollen Sie diese Haltung ändern?

Friedrich: Also es gibt erste Indizien, dass die Menschen dies langsam auch verstehen. Am Europatag am 6. Mai in München war so viel positive Reaktion wie bisher noch nie. Aber richtig ist nach wie vor, die Menschen wissen zu wenig, dass Europa eine Antwort auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bieten kann. Für viele Menschen ist nach wie vor Europa ein Teil des Problems dieser ganzen Globalisierungsgeschichte und nicht ein Teil der Lösung. Dies zu vermitteln, ist sehr schwierig, aber auch bitter notwendig.

Ostermann: Worin bestehen denn die entscheidenden Herausforderungen für das 21. Jahrhundert?

Friedrich: Frank Dahrendorf sagt zum Beispiel, durch die Internationalisierung des Lebens, der Politik, schwindet Demokratie dahin. Er hat Recht, aber Europa ist der erste Versuch, wieder auf internationaler Ebene Demokratie wieder zu installieren. Er sagt, der Wettbewerb wird brutaler, er wird härter. Wir hatten gestern im Europäischen Parlament eine Darstellung im Porzellanbereich mit China. Ja, wer kann soziale Marktwirtschaft wieder ins rechte Licht rücken? Es kann nur Europa, indem wir zum Beispiel seitens der Chinesen auch verlangen: Ihr müsst Mindeststandards einhalten. Wer kann (…) den Identitätsverlust des modernen Menschen auffangen? Das kann wiederum Europa sein. Es sagt, im Zeitalter des 21. Jahrhunderts reicht nicht mehr nur die nationale Identität, sondern wir haben heute eine mehrdimensionale Identität. Wir sind regional verwurzelt, wir haben unsere Nationen und sind Europäer in einer klein gewordenen Welt, wo wir gemeinsame Interessen unserer Bürger gegenüber den anderen großen Mitspielern vertreten können und müssen.

Ostermann: Die EU-Kommission will verstärkt Fragen des Binnenmarktes forcieren. Neue Regeln für Versicherungen, Bankgebühren, Handyrechnungen. Ist das ein ganz konkreter und richtiger Weg, um uns Bürger zu überzeugen?

Friedrich: Also da sind wir natürlich gerade auch im Europäischen Parlament skeptisch. Wir wollen eigentlich, dass wir bei der Regelsetzung der Europäischen Union etwas Zurückhaltung üben. Es ist richtig, dass viele der neuen wirtschaftlich-technischen Probleme nur noch europäisch lösbar sind. Was nützt ein deutsches Kartellrecht, wenn wir in ganz Europa nur noch eine Flugzeugfirma haben? Also wir sollten zurückhaltend sein bei der Formulierung von gemeinsamen eng auszulegenden Normen und technischen Vorschriften. Lassen wir da ein Stück weit, ja, Luft, lassen wir da mehr Spielraum. Ich glaube, das ist eher möglich, die Menschen dann zu überzeugen, dass wir gemeinsam auftreten müssen, als wenn sie weiter diese kleinen detaillierten Vorschriften in Europa erfinden. Hier muss die Kommission wissen, dass sich im Europäischen Parlament eine Mehrheit dagegen aufbaut.

Ostermann: Nun liegt die Verfassung derzeit auf Eis, auch wenn sie in 15 Ländern paraphiert wurde. Bis zum nächsten Monat haben sich die Staats- und Regierungschefs eine Phase der "Reflexion" verordnet. Dann wollen sie über den weiteren Weg entscheiden. Wohin muss die Reise gehen?

Friedrich: Also meine Tendenz geht dahin, dass ich sagen, lasst uns doch schrittweise auf das Ziel einer europäischen Verfasstheit hingehen. Das heißt konkret, überlegen wir a): Sind in der Verfassung ein paar Aspekte, die völlig umstritten sind, zum Beispiel eine gemeinsame Grundrechte-Charta? Lasst uns ein Stück weit dort hingehen, die Grundrechte-Charta auch schon anzuwenden ohne die Verfassung, und lasst uns ein Umfeld schaffen, indem wir die Bürger zunächst einmal mitnehmen und davon überzeugen, dass Europa eine Antwort ist auf die Probleme. Und dass die Bürger spüren, mit einer europäischen Zukunft gehen sie kalkulierbarer, sicherer für sich und die Kinder in diese Zukunft als ohne Europa. Wenn also dieses Umfeld, die Akzeptanz bei den Bürgern spürbar verbessert ist, dann können wir nächste Schritte auf diese Verfassung zutun. Mir ist wichtiger, der Weg geht in die richtige Richtung, dass wir dieses etwas großmächtige, fast bombastische Wort "Europäische Verfassung" kurzfristig umsetzen. Nehmen wir Zeit für die Qualität der Verfasstheit Europas. Vielleicht ist es dann nur ein Grundlagenvertrag, sagen wir den Bürgern, wo sind die Grenzen Europas. Dann, wenn sie mehr einverstanden sind mit unserer Politik, dann lasst uns über diese präzisere Definierung der Gemeinsamkeiten im Rahmen eines Verfassungsvertrages und eines Grundlagenvertrages diskutieren.

Ostermann: Inzwischen hat die EU die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufgenommen. Vertragen wir überhaupt noch weiteren Zuwachs?

Friedrich: Also hier ist eine Tendenzantwort, wie ich meine, die richtige. Es gibt kein absolutes "Nein". Wir werden früher oder später noch drei Staaten, Bulgarien, Rumänien, Kroatien, aufnehmen. Ich rechne damit in diesem Jahrzehnt. Aber dann brauchen wir in der Tat eine Phase der Konsolidierung, eine Phase der Findung der Europäer. Wir müssen dann zu allen anderen Staaten sagen: Bitte habt Verständnis, nicht weil ihr zu wenig europäisch oder zu wenig reif seid, sondern primär, weil wir uns überdehnen würden. Wir machen in der Zwischenzeit mit den Nachbarstaaten oder Türkei, Serbien, sehr intensiv zusammenarbeitende Nachbarschaftsverträge, wo wir im Bereich der Umwelt, der Wirtschaft, der Technologie eng zusammenarbeiten. Und was die Türkei betrifft, erwarte ich ohnehin, dass nach einer Volksabstimmung in Frankreich dann bei der Türkei, sagen wir, ein "Nein" für lange Jahrzehnte sogar die Antwort sein wird. Diese Mitgliedschaft von 25, 27 Staaten muss sich erst langfristig finden, bevor wir dann, sagen wir, in zehn, fünfzehn Jahren weitere Erweiterungen ganz konkret ins Auge fassen.