Friedrich-Dürrenmatt-Jubiläum

"Theater ist für mich ein Mittelstreckenlauf"

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Der schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt in den USA, ca. 1980.
Der Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt war lange ein Klassiker der Schullektüre. © Getty Images / Gamma-Rapho / Monique Jacot
Von Michael Laages · 19.12.2020
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Der Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt, der vor 30 Jahren starb, ist in den Theaterspielplänen ein seltener Gast geworden. Doch als Apokalyptiker passt er noch immer gut in die Gegenwart und ist politisch aktuell.
Ich gebe zu, auch ich bin auf ein Gymnasium gegangen und die Schillerschule in Hannover hatte eine Theater-AG. Wie viele meines Alters und mit meinen damals wachsenden Interessen war ich also auf der Bühne auch schon mal Sir Isaac Newton in dem Stück "Die Physiker". Das ist der eine von den beiden verrücktspielenden Wissenschaftlern und Geheimagenten (Einstein nennt sich der andere), die dem genialen Physiker Möbius in die Psychiatrie folgen, wo dieser die eigenen weltumstürzenden Theorien vor der Menschheit zu verbergen versucht.
Vergeblich – sie alle sind längst in der Hand der noch viel verrückteren Ärztin Mathilde von Zahnd. Friedrich Dürrenmatts finstre Parabel um "Die Physiker" haben wir gespielt. Auch die oft zitierte Theorie des Autors fand zumindest ich sehr überzeugend: Eine Geschichte ist dann zu Ende erzählt, wenn sie die schlimmstmögliche Wendung genommen hat. So ist das heute mehr denn je.
"Ich stelle mit einem Theaterstück nicht die Wirklichkeit dar, sondern für den Zuschauer eine Wirklichkeit auf." Gut, soweit dachten wir damals wohl noch nicht. Aber andere Dürrenmatts Gedanken überzeugten sofort: "Das Publikum ist immer naiv, auch heute, gerade auch heute – Gott sei Dank."

Gegen alle Theorie von heute

Mord und Tod, Lüge und Verrat, Liebe und Verzweiflung sind "wahr", wenn von ihnen auf der Bühne erzählt wird. Das sagte Dürrenmatt Mitte der 1970er-Jahre. Nichts davon hält heutigen Theorien vom Theater stand. Aber das eigene Modell hat Dürrenmatt kraftvoll in Bilder gesetzt – außer mit Blick auf die Weltuntergangs-"Physiker" vor allem in der Geschichte vom "Besuch der alten Dame", die aus ärmsten Verhältnissen sehr reich geworden ist und nun einem ganzen Dorf die Seelen abkauft für die Rache an ihrem Ex-Lover.
Das Miststädtchen "Güllen" (das nicht umsonst so heißt) verkauft sich heute vielleicht nicht mehr für eine Privatrache, aber für ein neues Industriegelände auf der ehemals grünen Wiese allemal.

Die Anfänge lagen beim Hörspiel

Dürrenmatts Panoramen der Unmoral gehören zum Kraftvollsten, was in den 1960er-Jahren im Theater entstanden ist. Der Autor aus Konolfingen hatte ganz großen Erfolg oder gar keinen. Tatsächlich beginnt sein Weg beim Hörspiel – so begann 1960 das erste, "Der Doppelgänger".
Dazu Dürrenmatt: "Es ist eine dunkle Geschichte, die mir auf dem Herzen liegt, und eine seltsame. Doch muss ich gestehen, dass ich nicht sehr viel mehr von ihr weiß als das Motiv. Das macht aber nichts. Eine Handlung stellt sich immer zur rechten Zeit ein."
Dürrenmatt wuchs in dörflichen Verhältnissen auf – und der Pfarrerssohn hatte es schwer. "Ich bin auf dem Dorf aufgewachsen", erinnert er sich. "Ich weiß auch, dass ich immer Schleichwege benutzen musste, um in die Schule zu gehen, weil ich immer die Bauernjungen vermeiden musste, die mich mit Leidenschaft verprügelten."
Und er tat sich weiter schwer, weil er kein schnell funktionierender Autor war. "Theater ist für mich ein Mittelstreckenlauf, ein 800-Meter-Lauf; ein Gedicht ist ein Hundertmeterlauf. Und ein Roman, das ist schon ein Marathon."

Klassiker der Schullektüre

Schon frühere Stücke, etwa "Frank der V.", setzten sich überhaupt nicht durch. Aber auch spätere, wie im Jahr 1988 "Achterloo IV", das letzte, auch nicht. Mit Romanen wie "Der Richter und sein Henker" oder "Das Versprechen" wandelte sich Dürrenmatt zum Klassiker der Schullektüre.
Wie viel mehr an Abgrund in Dürrenmatts Denken und Werk steckte, zeigte sich spät in den "Labyrinth"-Bänden. Und im vorigen Frühjahr zudem am Theater in Zürich als sich der Regisseur Frank Castorf dort dessen Roman "Justiz" vornahm.
Auch wenn die Kinder heute in der Schule vielleicht nicht mehr Möbius spielen und Einstein und Newton und Doktor Mathilde von Zahnd, hören sollten sie einen Autor, der gar nicht anders sein konnte als politisch: "Der Schriftsteller ist, ob er will oder nicht, dadurch, dass er schreibt, in die Politik eingemischt."
Und ein Kommentar zur Lage wird sich bei ihm immer finden. "Ich glaube nicht, dass die Rohstoffe noch in private Hände gehören. Das Geschäft mit diesen Grundstoffen ist in der heutigen Zeit ein Verbrechen."
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