Freundschaft

Die Kunst, einen Knochen zu benagen

Von Michael Opitz · 25.12.2013
Nach dem Fall der Mauer begegnen sie sich: Ein sächsischer Dichter und ein schwedischer Romancier. Und sie werden Freunde. Sie sind beide Schriftsteller, sie verwickeln sich in Gespräche, zeichnen sie auf. Sechs davon sind in dem vorliegenden Band dokumentiert.
Als Kind hat Durs Grünbein seine Eltern verflucht – "ich war immer der blöde Exot", doppelt gebrandmarkt "mit diesem Vornamen und diesem Familiennamen." Auch der Name von Aris Fioretos’ stach heraus. Er war ein Indiz dafür, dass er "von woanders herkam." Der 1960 in Göteborg geborene Immigrant und der zwei Jahre jüngere Sachse, der in Dresden aufwuchs, wollten als Kinder "durchgehen" – sie wünschten sich, unauffällig zu sein.
Sehr früh begannen beide, sich für die Sprache zu interessieren. Aris Fioretos führte in einem Haushalt, in dem fast nur Deutsch gesprochen wurde, Schwedisch als Familiensprache ein. Durs Grünbein überredete zwei Klassenkameraden, zusammen mit ihm einen Roman zu schreiben. Im Zentrum der Handlung sollte ein Mann namens Karl Adam stehen. "Dieser Romanheld", so Grünbein, "mit dem perfekten deutschen no-name, das war ich."
Kurz nach dem Mauerfall lernten sich Durs Grünbein und Aris Fioretos kennen und seit Mitte der 90er Jahre trafen sie sich an verschiedenen Orten zu Gesprächen. Sechs dieser Dialoge liegen nun in dem Band "Verabredungen" vor. Das erste Gespräch "Die Kunst, einen Knochen zu benagen", fand am 31. Oktober 1995 in einer Wohnung im Bayerischen Viertel in Berlin statt, zum vorläufig letzten Mal trafen sie sich im April 2013 in Dresden.
Musen küssen nicht - sie umarmen von hinten
Beide suchen das Gespräch. Weil sie viel zu sagen haben, warten sie auf Stichwörter, durch die Gedankenmassive wie eine Lawine ins Rollen geraten. Ob sie sich in der Wüste von Las Vegas treffen, der ehemaligen Wohnung eines RAF-Anwalts in Berlin oder bei einem Bootsausflug nach Drottningholm, die Dialoge werden zu sprachlichen Selbstinszenierungen, wobei zur Sprache kommt, was sie in der Vergangenheit prägte und was sie gegenwärtig beschäftigt. Diese Gespräche haben sie aufgezeichnet, manchmal unter Zuhilfenahme eines Recorders.
Fortgesetzt haben sie die Gespräche, indem sie sich Postkarten schrieben. Auf einer Karte stellt Fioretos Grünbein die Frage, was der "Musenkuß" sei. Darauf antwortet Grünbein, die Musen würden nicht küssen, sondern einen von hinten umarmen, wobei man aufpassen müsse, "daß sie einen nicht würgen." Keinen so konkreten Ausgangspunkt haben die mündlichen Gespräche, in denen beide immer wieder auf Franz Kafka zu sprechen kommen. Kafka liegt den beiden Europäern, aber Kafka scheint auch der Autor der Stunde zu sein, der in seinem Werk vorweggenommen hat, was sich Jahre später als beklemmende Realität erweist.
Wo sie sich auch aufhalten, sie werden von dieser Realität eingeholt, wenn sie sich der Geschichte der Orte vergewissern, an denen sie sich treffen. Ihr erstes Gespräch findet in einer Wohnung statt, die über einem Bordell liegt. Jahre zuvor hatte in dieser Wohnung der RAF-Anwalt Horst M. sein Büro, der heute ein "Deutschnationaler" ist. Diese ganz eigene Absurdität eines Ortes veranlasst beide, über Grenzen nachzudenken – über die Grenze, die den Kontinent teilte und über Grenzen des Vorstellbaren.
Die Gedankenbahnen, auf denen Grünbein und Fioretos unterwegs sind, gleichen Sprungschanzen. Fasziniert verfolgt man, wie sie zunächst Anlauf nehmen, um dann zu geistigen Höhenflügen abzuheben. Dass sie es aber verstehen, in jenen Gegenden zu landen, um die das eigene Denken kreist, gehört zu der beglückenden Erfahrung, die man bei der Lektüre dieser, in der Tradition der klassischen Philosophie stehenden Dialoge macht.

Durs Grünbein/ Aris Fioretos: Verabredungen, Gespräche und Gegensätze über Jahrzehnte
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013
251 Seiten, 28,00 Euro