Freunds flüchtige Fotografien

Von Michaela Gericke |
Sie hat als eine der ersten die europäische Avantgarde porträtiert: Literaten, Philosophen und Bildende Künstler holte sie vor ihre Kamera: die Fotografin Gisèle Freund. Auch ihre Fotoreportagen erregten Aufsehen und wurden in zahlreichen bedeutenden Zeitschriften in den USA und Europa veröffentlicht. Vor hundert Jahren wurde Gisèle Freund geboren.
Wind im Haar, grüblerische Fältchen über der Nasenwurzel, ein Zigarettenstummel zwischen den Lippen: Der verwegen wirkende, junge Mann mit Schlips und gestärktem weißen Kragen ist der Schriftsteller André Malraux, den Gisèle Freund 1935 in ihrem Pariser Exil fotografierte – eines der vielen von ihr porträtierten Gesichter der intellektuellen Avantgarde jener Zeit.

Als Gisela Freund wurde sie am 19. Dezember 1908 in Berlin geboren. Der Vater – Kaufmann und Kunstsammler – nahm das Mädchen sonntags mit in die Museen; dort hat die Fotografin das „Sehen gelernt“, wie sie später immer wieder betonte; und Gesichter studierte sie schon in der Berliner U-Bahn:

„Ich habe Menschen fotografiert meistens, vom ersten Anfang meiner Tätigkeit als Fotograf, als Amateurfotograf. Das waren immer Menschen. Denn was mich immer interessiert hatte, war die menschliche Persönlichkeit. Ich habe mich nie besonders für Landschaften interessiert. Und irgendwie war schon sehr früh in mir die Idee, dass das Gesicht der Ausdruck ist der Persönlichkeit eines Menschen",“

erinnerte sich Gisèle Freund 1989. Dass sie allerdings Fotografin werden würde, gehörte ursprünglich nicht in ihren Plan: Schreiben wollte die literaturbegeisterte und sprachbegabte junge Frau. 1931 geht sie nach Frankfurt, um neben Soziologie bei Karl Mannheim und Norbert Elias auch Kunstgeschichte und Wirtschaft zu studieren. Zwei Jahre später flieht die Jüdin und linksorientierte Studentin nach Paris.

Hier gelangt sie schnell in die Kreise der Schriftsteller und schreibt über „Fotografie in Frankreich im 19. Jahrhundert“ ihre Doktorarbeit. Ein Mann, der ihr dafür besonderen Respekt ausspricht, heißt Walter Benjamin – im Lesesaal der Bibliothèque Nationale hatten die beiden sich angefreundet. Auf einem Foto, das Gisèle Freund von ihm aufnahm, legt er nachdenklich die Finger an die Stirn, schaut durch die runde Nickelbrille in die Kamera: Das Bild ist eines ihrer ersten Porträts in Farbe. Aufnahmen von André Gide, Paul Valéry, Colette, James Joyce und vielen anderen sollten folgen.

„"Die hab ich alle fotografiert, zu einer Zeit, wo sie der großen Masse noch unbekannt waren; und das ist das Interessante. Außerdem wollte kein professioneller Fotograf Farbfotografie machen. Und ich habe die erste Agfacolor und Kodakchrom gekauft aus Neugier und ich war begeistert! Muss ich sagen. Jetzt konnte man doch endlich Aufnahmen machen, so wie man sie mit dem Auge sieht! Das heißt wir sehen doch alles in Farbe!“

Bei der Buchhändlerin Adrienne Monnier hat sie ihre erste Ausstellung mit Porträts französischer Bildender Künstler und Intellektueller, zu denen auch Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir gehören: Alle zeigt sie in deren persönlicher Umgebung.

„Ich fand, die Umgebung ist so ungeheuer wichtig, die Atmosphäre, in der ein Mensch lebt; was mich interessiert hat an den Bildern, war die psychologische Seite. Meine ganze Arbeit bestand darin, sie davon abzulenken. Abzulenken davon, dass da ein Apparat steht, der sie aufnimmt und den Moment abzuwarten, wo sie wirklich natürlich sind. Das ist nämlich das Schwierigste in allem, und das ist mir anscheinend ganz gut gelungen, denn meine Bilder sind nicht so schlecht.“

Mit der Leica im Rucksack reist sie in den 30er Jahren von Paris aus nach England, um in den Elendsvierteln im Norden zu fotografieren. Das berühmte amerikanische Life-Magazin veröffentlicht ihre eindringlichen Reportagen. 1942 muss Gisèle Freund ein zweites Mal vor den Nationalsozialisten fliehen. Sie emigriert nach Argentinien und arbeitet als eine der ersten Frauen für die Foto-Agentur „Magnum“, bei der sie bis 1954 unter Vertrag steht.

Die Sehnsucht nach Europa führte sie zurück in die Hauptstadt Frankreichs, wo sie ihre Karriere als berühmte Fotografin des Jahrhunderts erst im hohen Alter beendete. Gisèle Freund starb am 21. März 2000 mit 91 Jahren. Eines ihrer letzten Porträts ist das des Staatspräsidenten François Mitterand. Bis zuletzt blieb sie der Fotografie als Kunst aber auch sich selbst gegenüber kritisch.

„Ich habe ja Porträts zu meinem Vergnügen gemacht und Reportagen, um mein Leben zu fristen. Das ist die Wahrheit. Was heute überleben wird sind einige Porträts. Diese Porträts sind eben heute mit der Zeit verbunden. Und schließlich ist es, weil es mich nicht nur allein interessierte von der Farbe aus gesehen, sondern von der soziologischen und psychologischen Seite her.“