Freud und Leid mit den Naturparks

Von Almuth Knigge |
Vor 15 Jahren beschloss der Ministerrat der DDR auf seiner letzten Sitzung im September 1990 ein Nationalparkprogramm, das fünf Nationalparks, sechs Biosphärenreservate und drei Naturparks umfasste. In Mecklenburg-Vorpommern wurden fünf großflächige Schutzgebiete festgelegt, die heute als Nationalparks und Biosphärenreservate unter der Obhut des Landes stehen. Dabei handelt es sich um den Müritz-Nationalpark sowie die Nationalparks Vorpommersche Boddenlandschaft und Jasmund und die Biosphärenreservate Schaalsee und Südost-Rügen.
"Zwei mal Führung - zwei Personen - zwei Erwachsene."

Grus, Grus, die Kraniche – Vögel der Glücks, die edelsten unter den gefiederten, wie die Inder sagen.

Jessel: "Es scheint heute ziemlich voll zu sein. Wie sieht´s denn aus? "

Wenn sich ab Mitte September der Herbst über die Mecklenburgische Seenplatte und die Vorpommersche Boddenlandschaft legt, dann bekommt das Land noch einmal eine Menge Gäste: Zehntausende Kraniche, die auf dem Weg in den Süden hier Rast machen -– und tausende Touristen, die sich das Spektakel anschauen wollen

Jessel: "Sie werden auf dem Wege dorthin schon die ersten Kraniche sehen. "

In Federow, dem Eingang zum Müritz-Nationalpark, starten die Touren zum Rederangsee – dort, wo die Vögel nachts in Erlenbrüchen, verbuschten Feuchtflächen und Röhrichten vor ihren Feinden Schutz suchen im seichten Wasser.

Jessel: "Vielleicht gehen wir mal rechts."

Hans Jürgen Jessel führt die Gruppe. Er kennt in dem Nationalpark, der vor 15 Jahren noch militärisches Sperrgebiet der Sowjetarmee war, jeden Strauch, jeden Baum, jedes Geräusch.

Jessel: "Es war so, bis vor zwei Jahren konnte jeder zu den Kranichen laufen wie er wollte, das kam natürlich zu massiven Störungen - Leute mit schreienden Kindern, mit bellenden Hunden, alles blitzte rum. Und dann hat das Nationalparkamt verfügt, dass nur noch mit einem Kranichticket diese Plätze aufgesucht werden dürfen, was richtig war - zum Schutze. Und natürlich die sieben Euro. Das hat am Anfang ein bisschen Ärger gegeben, heute redet kein Mensch mehr darüber - Natur muss in Deutschland Geld kosten, das müssen die Leute einfach lernen. "

Und schon sind wir mittendrin in der Diskussion: wem die Glücksvögel wirklich Glück bringen, und ob die großen Schutzgebiete ein Segen sind für ein Land wie Mecklenburg-Vorpommern, das viel Natur hat – und wenig Wirtschaft.

Jessel: "Ostdeutschland – für Kraniche ist das die westeuropäische Route. Auf dieser Route haben sich vergangenes Jahr 220.000 Kraniche bewegt, sind also über Wochen hier geblieben, um dann im November nach dem Kälteeinbruch nach Frankreich zu fliegen. 220.000 – es ist zunehmend ein Problem, diese Kranichmassen satt zu bekommen, das können Sie sich vorstellen, die Bauern sind da nicht glücklich drüber. Ich denke, das ist ein politisches Problem, es sind transitreisende Kraniche, und keiner fühlt sich zuständig. Zunehmend werden die Kraniche von den Bauern verscheucht, es kommen ja die nächsten Tage noch eine halbe Million nordischer Gänse hinzu, die auch wochenlang hier bleiben. Und Sie kennen die Strukturen in der Landwirtschaft: kaum noch Ernterückstände – die Kraniche finden also zunehmend weniger Nahrungsflächen. "

Die Naturschutzgebiete, die Nationalparks, Biosphärenreservate und Naturparks machen im Nordosten rund fünf Prozent der Landesfläche aus. Gut doppelt so viel wie in anderen Bundesländern. Vor 15 Jahren ist das Nationalparkprogramm in den neuen Bundesländern als letzter Tagesordnungspunkt in der allerletzten Sitzung des Ministerrats der DDR verabschiedet worden – und rutschte quasi so gerade eben noch mit in den Einigungsvertrag, erinnert sich Prof. Michael Succow, der damals stellvertretender Umweltminister in der Modrow-Regierung war – und als der geistiger Vater des ostdeutschen Nationalparkprogramms gilt. Damals war es fünf vor 12 für die Naturlandschaften im Osten.

Succow: "Ja, der ganze Strand, die Küste Müritz-Nationalpark, das war das Staatsjagdgebiet von Willi Stoph, der Darß war das Staatsjagdgebiet von Erich Honecker. So, das waren natürlich Objekte, einsame Strände, da wollte man Marinas bauen, da wollte man natürlich Fremdenverkehr aufbauen, und uns war klar: diese Landschaften würden ganz schnell mit dem Großkapital, was dann reinfloss, wären die verschlissen und dann…"

Was dann? Succow bringt es auf eine einfache Formel:

"Kapital ist vermehrbar, Landschaft ist nicht vermehrbar. "

Das heißt konkret:

"Unser Ziel war, diese Landschaften zu sichern als Rückgrat für einen Naturtourismus, und der hat sich nun in diesem Mecklenburg, in Brandenburg, in Sachen mit dem Harz usw., Elbsandsteingebirge ja wirklich entwickelt. Die Landschaften sind Nationalparks, haben den höchsten Schutzstatus, haben eine Verwaltung, haben eine Ordnung, und sind aber für das Volk als Erlebnislandschaften, als Erholungslandschaften ausgewiesen, aber nicht für einen freien Massentourismus, der zerstörerisch ist. "

Was von vielen als eine der größten Leistungen der deutschen Wiedervereinigung gefeiert wird, bringt Succow, der 1997 mit dem alternativen Nobelpreis ausgezeichnet wurde, noch heute Unverständnis und Groll ein. Auch von Seiten der Tourismuswirtschaft, die ja eigentlich profitieren sollte.

Weigelt: "Tatsache ist aber, dass der Tourismus existenziell vom Naturschutz abhängt, auch wenn er sich das nicht so recht eingestehen möchte. Aber der Tourismus im Lande lebt von der Landschaft, das geht aus ungezählten Urlauberbefragungen hervor. Die kommen hierher, gerade nach Rügen, wegen der Landschaft und immer wieder wegen der Landschaft, und die steht im Vordergrund und im Mittelpunkt des Interesses. Und wenn sie dann schon wegen der Landschaft herkommen, dann wollen die natürlich auch eine ordentliche Infrastruktur, Dienstleistung usw. haben. "

Dr. Michael Weigelt ist Leiter des Nationalparkamtes auf Rügen, Deutschlands beliebtester Ferieninsel. Er erlebt ihn täglich, den Konflikt zwischen Bevölkerung, Wirtschaft und Naturschutz. Die Bevölkerung empfindet auch heute noch die Einschränkungen, die durch die Nationalparkgesetze entstanden sind, als Bevormundung.

Weigelt: "Durch die Existenz des Schutzgebietes, durch das ja überhaupt erst Regeln da sind – Verhaltensregeln, Einschränkungen, die ja unbeliebt sind – wird es vielleicht eher gebremst. Also wenn man den Tourismus hier völlig ungezügelt, ungeregelt auf die Insel loslassen würde, dann wäre das Ganze ja noch wesentlich schlimmer. "

Kranich, Adler, Frauenschuh, Tourist und Naturschützer sind zufrieden. Und die Kuh – die beißt sich – im übertragenen Sinne – in den Schwanz.

Landwirt: "Ich bin nun dabei, so gut wie die letzten Tiere noch abzuschaffen, alles wieder abzureißen. Den Stall, den man da zum Teil halbfertig gebaut hat für die Mutterkühe im Winter, die Weideanlagen, den Getränkebrunnen und dergleichen mehr, eben alles komplett zurückzubauen. "

Hans Jürgen Barthelmes ist Landwirt im Müritzkreis. Eigentlich hat er Bauarbeiter gelernt, doch seine Familie hatte immer eine kleine Landwirtschaft nebenbei. Ein hartes Brot: Die Gegend in der Mecklenburgischen Seenplatte ist hügelig, durch wilde Birnen und Schlehenhecken zerschnitten. Ackerbau ist beschwerlich. Also hat sich Barthelmes nach der Wende auf Mutterkuhhaltung verlegt. Doch durch die vielen Einschränkungen seitens des Nationalparks, die durch die Ausgleichszahlungen nicht aufgefangen werden, reicht es gerade so zum Überleben

Succow: "Das ist das übliche Klagen und Jammern. Ich kann nur sagen, hätten wir diese Nationalparks dort nicht, in diesen Gebieten – wenn ich an die Müritz denke, durch diesen Nationalpark ist ein Besucherstrom, ist eine Regionalentwicklung in Gang gekommen, die sonst bei freier Entfaltung ganz schnell verspielt wäre. "

Die nackten Zahlen geben dem Professor Recht. Im vergangenen Jahr haben rund 650.000 Menschen den Müritz-Nationalpark besucht – und einen Bruttoumsatz von 13,4 Millionen Euro erwirtschaftet.

Succow: "Und damit habe ich, und das ist ja überall zu spüren, mit den Nationalparks eben eine regionale Entwicklung, die Wertschöpfung bringt, nicht durch Nutzung, durch direkte Nutzung, sondern eben durch dieses Phänomen eines Naturerlebens, Naturbegegnung, Gesundheitstourismus. Und das war unser Konzept. "

Für Leute für Landwirt Barthelmes ist Tourismus nicht alles.

"Tourismus schön und gut. Ich meine – auch ein bisschen meine eigene Meinung – wenn ich ganz speziell sehe, wie oft man mir die Tränken, die Schläuche geklaut hat, die Weidezaungeräte geklaut hat, ganze Koppelpfähle herausgerissen hat zum Feuermachen oder eben die Zäune zerschneidet, damit die Herrschaften schieten gehen können, weil das Gras da ja kürzer ist, als irgendwo im Busch…"

Die Liste der Aufreger ist lang.

Landwirt: "Das geht ja auch mit dem Verkehr in den Ortschaften los, man kriegt keinen Parkplatz, obwohl man zuhause ist, wenn man nur mal einen Brief in der Post abgeben will oder sonst was, muss man am besten schon für jeden Dreck und Mist bezahlen, und das kann einem manchmal schon ganz schön sauer aufstoßen. "

Seine Lebensqualität sieht der Vorpommer extrem eingeschränkt

Landwirt: "Hier lebe ich, fühle mich wohl aus diesem Grunde: weil ich mein Paddelboot nehmen kann, geh runter zum See, schmeiß es ins Wasser oder nehme mein Fahrrad und fahr hier in Ruhe einen Waldweg lang, ohne das mir 20 oder 30 Leute entgegen kommen und palavern und schreien durch die Gegend. Das macht meine Lebensqualität hier aus, wo ich sage: Ich haue hier nicht ab. So und die wird eigentlich zum Teil auch zerstört. "

Wirtschaftlich in die Knie gezwungen hat ihn die Tatsache, dass ihm die Pachtverträge für seine 180 Hektar am Steilufer der Müritz nicht verlängert wurden. Das Land, das in Bundesbesitz ist, soll verkauft werden – gegen Höchstpreis. An Investoren im Tourismus. Wir mutieren hier zum Safaripark, regt sich der 47-Jährige auf.

Landwirt: "Und die Wertschöpfung, ob die durch den Tourismus jetzt immer höher gesehen ist, als wenn jetzt irgendwo landwirtschaftliche Flächen wegfallen. Industrie wäre natürlich noch besser in der Wertschöpfung, aber da wissen wir ja auch, wie das hier läuft. Ich möchte jetzt nicht hetzen, aber mir kommt es manchmal so vor, als wenn das auch so gesteuert ist, das man sagt, bisschen vulgär ausgedrückt, hier im Osten, ihr werded mal Tourismushure auf deutsch gesagt, und die Wertschöpfung und Handwerk, Gewerbe und dergleichen mehr, lassen wir in den Altbundesländern. "

Die Dämmerung bricht herein. Zeit für die Kraniche. Hans-Jürgen Jessel hat mit seiner Gruppe den Aussichtspunkt am Rederang-See erreicht. Ein überdimensionaler Hochsitz – hier haben 50 Leute Platz. Durch den Ausblick erscheint die Landschaft wie in einem Breitband-Film. Öko-Kino - warten, flüstern.

Jessel: "Sie sehen da jetzt einen Silberreiher kommen – schneeweiß, vor 20 Jahren fuhren wir nach Rumänien, um ihn zu sehen, jetzt kommt er zu uns. "

Jetzt kommen sie, in dieser typischen V-Formation. Jessel hält sich die Hände hinter die Ohren.

Jessel: "Das Piepen sind die Jungvögel von diesem Jahr...was Sie hören."

Alle halten den Atem an – den Feldstecher gezückt, ducken sich die Hobby-Ornithologen tiefer auf die Bänke.

Flüstern: "Wenn Seeadler angreifen, dann knurren sie und nehmen alle synchron den Schnabel hoch und wehren ihn ab…
War er drüber?
Ja, der Seeadler war drüber. "

Der Seeadler – ein kleines Naturwunder ist es schon, dass sich die Population der sensiblen Vögel so gut entwickelt hat. Mittlerweile gibt es wieder 14 Brutpaare im Land – vor 15 Jahren waren es nur zwei. Die Seeadler sind allerdings auch schuld, dass man die Kraniche seit ein paar Tagen vom Hochsitz aus nicht mehr so gut beobachten kann. Durch die Angriffe ziehen sich die Vögel in immer weiter entfernte Buchten zurück.

Nach gut zwei Stunden ist die Schau vorbei. Die Ruhe macht den ein oder anderen unruhig – oder vielleicht ist es auch etwas anderes.

" Wenn ich jetzt ein menschliches Bedürfnis habe, einfach in die Büsche schlagen?
Ja, für Männer ist das einfach im Nationalpark, für Frauen etwas schwieriger.
Nee, Toiletten im Wald.
Hier stehen so dicke Kiefern, da sieht sie kein Mensch."

Allerdings weisen Schilder erfolgreich darauf hin, dass man nicht von den beschilderten Wegen abweichen soll.

Jessel: "Einheimische brechen manchmal aus, aber die Fremden, die trauen sich nicht so, die haben Angst vor Zecken. Gerade während der Pilzsaison dringen manchen in die Kernzonen ein, das ist ja verboten. Werden die auch gebüßt? Ja - auch das Parken im Wald, manche Pilzsammler, die parken am Wegesrand, ist verboten, kostet zehn Euro. "

Hier im Müritz-Kreis hat sich die Bevölkerung an das Leben im Nationalpark gewöhnt – richtig viele sind es sowieso nicht. Gerade mal 1000 – das heißt, drei Einwohner auf 100 Hektar. 70 Kilometer weiter östlich sorgen neue Succow-Pläne unterdessen für Aufregung. Der Professor plant einen neuen Nationalpark – keinen staatlichen, das ist – gerade für ein Land wie Mecklenburg-Vorpommern – zu teuer. Succow denkt an einen privaten Stiftungsnationalpark – an der deutsch-polnischen Grenze, wo die höchste Arbeitslosigkeit herrscht.

Succow: "Und da ist es der Versuch, wenigstens noch einen Teil der Menschen einzubinden in eine touristische Wertschöpfung, indem eben ein Fahrradverleih aufgebaut wird, indem ein Bootsverleih aufgebaut wird, indem einige als Ranger Arbeit haben, indem eben Ökoprodukte verkauft werden. Es ist der Versuch einer Regionalentwicklung in einem ländlichen Raum, der sonst sich entvölkern würde, wie wir es ja auch in großen Teilen Südeuropas oder auch in den Alpen kennen. "

Die Stifter hätte er schon zusammen. Die wiederum wollen aber ihr Geld nicht zum Kauf des Gebietes zur Verfügung stellen. Und der Bund will das Land verkaufen – an einen privaten Investor, der sich für 1,6 Millionen Euro den Traum von der eigenen Jagd erfüllen will. Auch die Bevölkerung ist nicht uneingeschränkt dafür. Viele befürchten zum Beispiel, dass der dringend benötigte Grenzübergang Hintersee zu Polen dann noch länger auf sich warten lässt. Und überhaupt: die Nationalparkidee stammt aus den USA, jahrzehntelang der Klassenfeind – das sitzt tief.

Jessel: "Hier waren ja auch viele dagegen, es war Staatsjagdgebiet, man durfte nicht rein, dann wurde das Nationalpark und man glaubte, es geht so weiter - und das befürchten die Leute dort auch. Doch die haben wirtschaftlich doch gar keine andere Chance, dort an der polnischen Grenze. Ich kenne das Gebiet. Als Nationalpark ausgewiesen, hat das eine Sogwirkung so ein Schutzgebiet und würde dann Touristen anziehen. Das hat man hier ja auch gespürt – gucken Sie, der Nationalpark hat vergangenes Jahr 600.000 Besucher gehabt, natürlich wirkt sich das auch finanziell aus. Und die Schutzgebiete sollen auch zur Strukturentwicklung der Region beitragen, dazu ist der Müritz-Nationalpark auf gutem Wege, kann ich beurteilen. "

Die Gruppe, die beseelt von ihrer Ökotainment-Tour zurück ist, ist das beste Beispiel dafür. Jetzt, wo der Sommer vorbei ist, beschert sie dem Fremdenverkehr noch einmal gute Einkünfte.

Jessel: "Meine Damen und Herren. Ich bleibe hier. Ich hoffe, Sie hatten ein paar interessante Erlebnisse, Sie waren weit weg, das ist jeden Abend anders, das ist eben Natur, kommen Sie gut nach Hause, Tschüssing. "