Fremdeln mit der eigenen Biografie

30.08.2007
Er zählt seit Jahrzehnten zu den großen Eigenwilligen der französischen Gegenwartsliteratur. Einige seiner Romane haben Patrick Modiano ein treues deutsches Publikum beschert. Sein neues Buch "Ein Stammbaum" erzählt literarisch seine eigene Biografie. Deprimierend und verstörend lesen sich seine Erinnerungen an die "leeren Jahre", die vor der Existenz als Literat liegen.
Irgendwann heißt es in diesem schmalen Büchlein, und es klingt, als entfahre dem Autor ein tiefempfundener Stoßseufzer: "Ich werde diese Jahre weiter herunterbeten, ohne Nostalgie, doch mit atemloser Stimme. Meine Schuld ist es nicht, wenn die Worte sich überstürzen. Es muss schnell gehen, sonst verliere ich den Mut." Etwas von der Lustlosigkeit, etwas vom Fremdeln gegenüber der eigenen Biografie liegt über dem ganzen Buch. Warum hat er es dann überhaupt geschrieben, fragt man sich.

Nun ist ja Patrick Modiano nicht irgendjemand. Er zählt seit Jahrzehnten zu den großen Eigenwilligen der französischen Gegenwartsliteratur. Er hat sein Publikum, ja seine Gemeinde. Seit seinem vielbeachteten Debüt "Place de l’Etoile" schreibt der 1945 geborene Erzähler mit schöner Regelmäßigkeit jahraus, jahrein seine atmosphärisch ungemein dichten, melancholisch verschatteten, dazu eminent pariserischen Erinnerungsbücher. Einige davon sind auch bei uns gut angekommen und haben dem Autor ein treues deutsches Publikum beschert, "Dora Bruder" etwa, "Aus tiefstem Vergessen" oder, erst vor zwei Jahren, "Unfall in der Nacht".

Diese Bücher kreisen fast immer um junge, orientierungslose Menschen, die von den vierziger bis in die siebziger Jahre hinein in der französischen Hauptstadt oder in abgelegenen Seebädern ihre Bahnen ziehen, und es ist seit langem kein Geheimnis mehr, dass Modiano dabei auf eigene Erfahrungen zurückgreift. Ist er doch im klassischen Sinne ein Entwurzelter, Sohn eines dubiosen Geschäftsmannes und einer erfolglosen Schauspielerin, einem Paar, das sich unter der deutschen Besatzung kennenlernt und zusammentut, aber schon bald nach der Befreiung getrennte Wege geht. Entsprechend ungeliebt und herumgeschubst wächst der Sohn auf, von Internat geht es zu Internat, und auch nach der Schule kann er in der Gesellschaft kaum Fuß fassen, findet offenbar niemanden, der ihn aus seinen unproduktiven Tagträumereien emporreißt. Bis er endlich mit dem Schreiben die ihm gemäße Lebensform gefunden hat.

Mit diesem Punkt des Zusichselberkommens enden denn auch diese Aufzeichnungen, die man zögert, Memoiren zu nennen, denn dazu orientieren sie sich zu sehr am erzählerischen Verfahren seiner Romane mit ihrer kunstvollen Vagheit und jenen suggestiven Evokationen von Orten, Menschen, Fakten, die manchmal so sehr an konkrete Poesie erinnern. Doch fehlt eben diesen Aufzeichnungen wiederum der Zauber der sonstigen Prosa Modianos. Es ist, als ob das unumwundene Schreiben in eigener Sache ihn hemme, als ob die unguten Gefühle von einst ihn wieder übermannten, denn eines wird bei der Lektüre auch dem unkundigsten Leser deutlich: der Gedanke an die "leeren Jahre", wie es einmal heißt, die vor der Existenz als Literat liegen, ist für Modiano noch immer deprimierend und verstörend. Doch nicht mal der Moment, in dem Modiano sich entschließt, Schriftsteller zu werden, wobei ihm offenbar der ältere Kollege Raymond Queneau geholfen hat, worüber man aber bedauerlicherweise nichts Genaues erfährt, nicht einmal dieser entscheidende Moment wird vom Autor ausführlicher dargestellt; auch hier bleibt es beim "Herunterbeten".

So wandert denn der Leser 20 Jahre eines haltlosen Lebens ab, bekommt viele Informationen zu den Romanen nachgeliefert und wird mit einer Fülle von Menschen konfrontiert, die alle vollkommen konturenlos bleiben – so, wie sie wahrscheinlich für den jungen Modiano auch waren, der die wechselnden Freunde seiner Eltern (eigene hatte er offenbar kaum) hilflos und orientierungslos über sich ergehen lassen musste. Und wenn er ihnen im Abstand von mehreren Jahren einmal wiederbegegnet sein sollte, dann zumeist deshalb, weil sie durch ihre dunklen Geschäfte und Betrügereien in die Zeitungen geraten waren.

Für unbedingte Modiano-Fans ist das Buch nicht ohne Reiz, weil es sozusagen den Realien-Fonds zu den Romanen bietet. Für alle anderen Leser beweist es einmal mehr, dass nicht der Stoff eines Lebens dasjenige ist, was die Beschäftigung mit einem solchen reizvoll macht, sondern die Form, in die man es gießt. Und da hat sich der Romancier Modiano unendlich viel mehr Mühe gegeben als der Autobiograf.

Rezensiert von Tilman Krause

Patrick Modiano: Ein Stammbaum
Übersetzt von Elisabeth Edl
Hanser Verlag München 2007
128 Seiten, 12.90 €