Fremd oder zu Hause in der Heimat?

Michael Frantzen · 18.08.2011
Unter dem schwierigen Verhältnis zwischen Estland und Russland leidet in Estland vor allem die russischsprachige Minderheit. Einen estnischen Pass bekommt nur, wer eine Sprach- und Verfassungsprüfung ablegt.
Für Eduard Ordinets ist die Sache klar: Heimat - das ist für ihn Estland. Der pausbäckige Mann im weißen Poloshirt, dem man seine 35 nicht ansieht, nickt energisch. Draußen türmen sich die Gewitterwolken, die die estnische Hauptstadt Tallinn in die Zange nehmen. Drinnen, im penibel aufgeräumten Büro des russisch-stämmigen Akademikers, sinkt die Betriebstemperatur. Gefällt ihm nicht – die Frage. Nach der Identität. Ordinets spielt nervös mit seinem Kugelschreiber. Schließlich hat er sein ganzes Leben hier verbracht:

"Ich würde mich als jemanden bezeichnen, der sehr gut integriert ist. Ich spreche Estnisch so gut wie Russisch. Zu Sowjetzeiten, als jugendlicher Pionier, hätte ich mir das natürlich nicht träumen lassen. Bei uns zu Hause redeten wir Russisch, genau wie in der Schule. Ich fühlte mich russisch. Das ist heute anders. Heute habe ich einen estnischen Pass, mein Umfeld ist komplett estnisch. Ich habe nur estnische Freunde, meine Partnerin ist Estin. Im Grunde genommen bin ich heute viel mehr Este als Russe."

Rund ein Viertel der 1,4 Millionen zählenden Bevölkerung Estlands ist russischsprachig. Die meisten leben in Tallinn. Oder im Nordosten des Landes, an der Grenze zu Russland. So wie Eduards Ordinets Eltern. Sie sprechen bis heute kaum ein Wort Estnisch. Eduard schüttelt unmerklich den Kopf. "Eine andere Generation"; der es leider an "Weitblick" fehle. So etwas könnte ihm nicht passieren: Schon mit 15, erzählt der Mann, der es zum Chef der Ausbildungsabteilung der staatlichen Stiftung für Integration MISA gebracht hat, habe er seinen "Master Plan" geschmiedet: Estnisch lernen! Um eine Chance im unabhängigen Estland zu haben.

Deshalb hat er sich in unzähligen Privatstunden mit den 14 verschiedenen Fällen des Estnischen herumgeschlagen; ist er nach dem Abitur nach Tallinn gegangen. An die Universität, um Estnisch als Fremdsprache zu studieren. Eduards "Plan" ist aufgegangen; der "Master-Plan". Dem sonst so ernsten Vorzeige-Esten huscht ein Lächeln über die Lippen. Er hat Karriere gemacht. Für die Stiftung koordiniert er hauptsächlich die Estnisch-Sprachkurse, in der letzten Zeit sind aber auch neue Bereiche dazu gekommen. Denn so gut integriert wie er sind längst nicht alle Russen in Estland:

"Nach der Unabhängigkeit Estlands, Mitte der 90er, war das Hauptziel unserer Stiftung, den Russen Estnisch beizubringen. Heute ist uns fast noch wichtiger, Russen und Esten überhaupt zusammenzubringen; damit sie sich kennenlernen. Und nicht abkapseln. Wir setzen auf die Jugend. Jugendliche aus Tartu beispielsweise – das ist ganz im Süden, wo fast nur Esten leben - treffen sich mit ihren russischsprachigen Altersgenossen aus dem Nordosten. Die verbringen ein, zwei Wochen zusammen in Sommer-Camps. Sie reden meist Estnisch miteinander. So funktioniert Integration. Keine politischen Aktionen! Die Sprache ist wichtig; dass die Jugendlichen eine gemeinsame, eigene Sprache finden. Und zusammen kommen."

Seine eigene Sprache hat er längst gefunden: Ruslan Bokov, der Mann mit den Wasserstoff blond gefärbten Haaren, der ein bisschen wirkt wie die Reinkarnation von Andy Warhol. Ruslans Sprache – das ist seine Musik: russischer Indie-Rock. Das kommt an – auch im Ausland. Erst im Frühjahr ist der 34-jährige Russe durch die USA getourt. Eine Erfolgsgeschichte "Made in Estonia". Ruslan schaut leicht skeptisch über den Rand seiner blau-getönten Sonnenbrille. Zwar liegt der Biergarten vom "Vana Villemi Pub", seiner Lieblings-Kneipe in Tallinn, wo die Musik laut und die Kundschaft solvent ist, heute Nachmittag im Schatten: Die Brille aber bleibt auf. Im Ausland mögen die Leute ja auf seine Musik abfahren, meint er, nur: Zu Hause, in Estland, sei das anders:

"Ich arbeite eigentlich nur mit anderen russischen Musikern zusammen. Meine Freunde sind auch alle Russen. Ich weiß nicht: Die Esten, die ich kennengelernt habe – die sind eher verschlossen. Mir passiert es häufiger, dass ich etwas auf Estnisch sage – und sie mir auf Englisch antworten. Also, so schlecht ist mein Estnisch nun wirklich nicht. Es gibt immer noch eine Kluft zwischen uns Russen und den Esten. Mag sein, dass das mit der Vergangenheit zu tun hat; mit der Sowjetzeit. Die Esten sind ja unterdrückt wurden – im eigenen Land. Das war nicht ok. Aber: Das ist jetzt über zwanzig Jahre her, ich war ein Kind damals, das können die Esten mir doch nicht zum Vorwurf machen! Oder dass ich auf Russisch singe. Es ist doch meine Muttersprache. Tun sie aber. Also, ich würde sagen, viele sind schon eher kalt und melancholisch. Und viel zu rückwärtsgewandt."

Rückwärtsgewandt sind auch einige von Ruslans treusten Fans: Russen jenseits der 50 aus Lasnamäe, dem sogenannten "Russen-Bezirk" von Tallinn. Ein, zwei Mal im Monat buchen sie ihn zu seinen "Sowjet-Abenden". Das ist zwar nicht richtig Indie, bringt aber richtig Geld. Meist spielt er Cover-Versionen von Sowjet-Hits aus den 60ern. Ruslan schaut von seinem Tisch im "Vana Villemi" hoch zum Riesen-Plasma-Bildschirm, auf dem russische Popvideos in Endlosschlaufe laufen, in denen Frauen vorzugsweise viel nacktes Fleisch zeigen – und die Herren der Schöpfung dicke Autos und Macho-Gehabe.

Er trinkt ein Schluck Bier. Richtig gerne rückt er mit der Sache mit den "Sowjetabenden" nicht heraus. Einige seiner russischen Musiker-Kumpels würden ähnliche Sachen machen, wiegelt der Musiker ab. Ruslans Bekannter Sascha Zedeljov hat auch schon mit dem Gedanken gespielt – um ihn postwendend zu verwerfen. Auf die Nostalgie-Welle aufzuspringen – das ist nichts für Sascha. Es entspricht nicht seinen "Werten":

"This is Russian: That is love. And gratitude."

Liebe. Und Dankbarkeit. Prangt als Tattoo auf Russisch auf Saschas linkem Unterarm. Mit seinen 28 hat Sascha schon einiges auf die Beine gestellt. Er hat jahrelang am renommierten russischen Theater von Tallinn als Dramaturg gearbeitet – bevor er sich ganz auf seine Musik konzentriert hat; seinen Jazz.:

"Letztens kam ein estnischer Veranstalter nach einem Konzert zu mir und meinte: Oh! Seid Ihr aus Sankt Petersburg? Und ich so: wieso? Wir sind aus Tallinn. Tallinn! Echt! Ihr seid wirklich gut, ich ruf euch an, wenn ich das nächste Mal ein Festival plane. Und was passiert? Nichts! Stattdessen sehe ich auf der Facebook-Seite von dem Typen, dass er in der Zwischenzeit "ich-weiß-nicht-wie-viele" Konzerte organisiert hat. Natürlich nur mit estnischen Bands. Estnische Veranstalter buchen uns einfach nicht. Deshalb organisiere ich 80 Prozent unserer Auftritte selbst. Das ist ein ziemliches Problem."

In Saschas gelb gestrichener Dreizimmer-Wohnung am äußeren Ring von Tallinn stapeln sich die CDs. Der Musiker greift eine heraus – und legt sie in den CD-Player: sein neuster Track.

Weiter hinten, neben dem Regal mit dem kleinen Buddha und dem Holzeichhörnchen, hat sich Sascha eine Art Büro eingerichtet. Ein winziges Zimmer: Computer, Telefon, ein Klappstuhl, viel mehr ist nicht. Wenn es heiß ist, so wie jetzt im kurzen baltischen Sommer und das Kippfenster offen, muss er lauter reden, um gegen den Sound von draußen anzukommen: Gegen die zwei russischen Omas in ihren blauen Blümchen-Kitteln, die immer vorm Haus-Eingang auf der Holzbank sitzen, um zu schwatzen.

"Wissen Sie: Traditionen bedeuten uns eigentlich wenig. Uns in der Band ist es egal, ob die Musik russisch ist, estnisch oder was weiß ich: Litauisch. Sie muss uns einfach nur berühren. Im Idealfall höre ich etwas und denke: aha! Interessant! Das könnte gut zu unserer Musik passen. Das sollten wir irgendwie einbauen. Wir sind sieben Bandmitglieder: Vier sind russischsprachig, drei estnisch. Zwei von den Esten können kein Russisch, aber das ist kein Problem: Unsere gemeinsame Sprache ist die Musik. Sie vertrauen mir, wir verstehen uns auch so. Wirklich kein Problem!"

Zu Hause spricht Sascha Russisch. Seine Partnerin ist ja auch Russin. Tatjana Osdoba sitzt auf gepackten Koffern. Das ist wörtlich zu nehmen. In einer halben Stunde will Sascha sie mit dem Auto ins zwei Autostunden entfernte Pärnu fahren, von dem es scherzhaft heißt, dass halb Tallinn dort im Sommer einfalle. Tatjana wird im beliebtesten Badeort Estlands drei Tage lang einen Tanz-Workshop leiten. Zwanzig Teilnehmerinnen haben sich angemeldet, bis auf zwei alles Frauen, die nur Estnisch sprechen. "Ist ja selbst schon eine halbe Estin" - wirft Sascha lachend ein. Um gleich darauf die Hände hochzuwerfen. Tatjana schaut ihn müde lächelnd an:

"Meine Eltern haben mich in einen estnischen Kindergarten geschickt, damit ich es später leichter haben würde in Estland. Davon profitiere ich heute noch: Bei der Arbeit rede ich fast nur Estnisch. Mein Boss ist Este. Ein wirklich toller Typ. Er mag die russische Kultur sehr. Leute wie ihn habe ich häufiger kennengelernt: Esten, die sich bewusst sind, welche Hochkultur da in ihrem Land neben der eigenen existiert. Und welche Bereicherung das ist. Ich kann für mich nur sagen: Ich hatte nie Probleme, weil ich Russin bin. Ich meine, ich habe einen russischen Vornamen, mein Nachname ist sogar Ukrainisch. Aber null Probleme. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass ich Estnisch kann. Und mich die Leute deshalb schneller akzeptieren."

Erzählt die junge Frau in den orangenen Leggings und dem ärmellosen T-Shirt – bevor sie Sascha zwei ihrer drei Taschen in die Hand drückt. Aufbruch! Runter zum Auto, möglichst schnell durch das giftgrüne Treppenhaus, dessen Geruch erahnen lässt, dass hier nicht nur Menschen, sondern auch Katzen ein und aus gehen. "Gewöhnt man sich mit der Zeit dran". Tatjana zuckt die Schultern. Sie hat es eilig. Unten am Parkplatz, der übersät ist von mehrere Zentimeter tiefen Kratern, hält sie kurz inne. Sie zeigt auf einen braunen Mercedes, der mindestens dreißig Jahre auf dem Buckel zu haben scheint – und fängt an zu lachen. Da! Das Nummernschild: "1976, STAR" ist darauf zu lesen. Das Auto von einem Typen aus dem sechsten Stock, der 1976 geboren ist – und sich für einen Star hält. Eigentlich ein armes Würstchen, der beruflich nichts zustande bringt. Lästert die Tanzlehrerin und schüttelt den Kopf. Auch einer von denen, die meinen, sie könnten ohne Estnisch über die Runde kommen:

"Junge Russen sollten schon versuchen, Estnisch zu lernen. Es ist doch logisch. Wenn ich nach Frankreich gehe, um dort zu leben: Was mache ich dann? Genau: Ich lerne als erstes Französisch. Es wäre doch arrogant zu sagen: warum denn Französisch? Reicht doch völlig, dass ich Russisch kann. Und Englisch. Das wäre einfach vermessen. Genau das gleiche hier in Estland. Die jungen Russen sollten gefälligst Estnisch lernen. Bei der älteren Generation bin ich mir da nicht so sicher, bei unseren Großmüttern und Großvätern. In dem Alter noch einmal eine neue Sprache zu lernen – das ist natürlich unglaublich schwierig."

Wer als Russe den estnischen Pass haben will, muss nicht nur einen Sprach-Test in Estnisch bestehen, sondern auch nachweisen, dass er oder sie über die estnische Verfassung und Geschichte Bescheid weiß. Für viele ältere Russen eine unüberwindbare Hürde: 100.000 sind immer noch staatenlos. Yevgeni Timaschuks Eltern sind zwei von ihnen. Genau wie ihr 28-jähriger Sohn leben sie in der rund 210 Kilometer von Tallinn entfernten Industriestadt Narva, die direkt an der estnisch-russischen Grenze liegt. Auf dem Papier ist die 100-000 Einwohnergemeinde estnisch: Die Mehrzahl der Bevölkerung aber ist russisch. Doch langsam tut sich etwas, erklärt Yevgeni, der in der größten Touristenattraktion der Stadt, der wuchtigen Hermannfeste, Mittelalterfestivals organisiert und Touren konzipiert:

"Es ziehen wieder mehr gebürtige Esten nach Narva. Wenn mich nicht alles täuscht, sind es jetzt sieben Prozent der Bevölkerung. Ist natürlich immer noch wenig, aber man muss wissen: Vor ein paar Jahren waren es noch weniger als fünf Prozent. Ich finde das gut. Bislang hatten einige gebürtige Esten ja richtig Angst, nach Narva zu kommen. Weil sie dachten: Narva? Das ist doch diese Russen-Stadt. Wo lauter verrückte Russen leben. Oder so was.” "

"Verrückte Russen" - die macht Yevgeni Timaschuk allenfalls auf der anderen Seite des Narva-Flusses aus, in Ivangorod. Yevgeni hat die "Verrückten" gut im Blick. Der gestriegelt wirkende 28jährige geht zum Fenster seines Arbeitszimmers unterm Dach der mittelalterlichen Festung. Keine fünf Meter entfernt kriechen Tag und Nacht die russischen Lastwagen im Schritttempo an der Zollstation vorbei über die Brücke, nach Russland:

" "Wenn ich mich entscheiden sollte, ob ich beruflich nach Europa oder Russland gehen sollte: Ich würde mich für Europa entscheiden. Ich habe vor kurzem eine Gruppe junger Historiker begleitet, die unsere Festung besucht haben: einen Tag Narva, einen Tag Ivangorod. Es mögen zwar nur dreihundert Meter zwischen Narva und Ivangorod liegen, aber die Kulturen sind grundverschieden. Die Russen drüben sind ganz anders als wir. Als wir drüben waren, wollten wir in einem Café etwas trinken. Wir haben die Kellnerin auf Russisch gefragt, ob sie Platz hätte. Und die so: Niet! Nichts frei! Die war so etwas von mürrisch: So etwas bist du aus Narva nicht gewohnt. Die Russen aus Ivangorod nennen uns ja auch nicht umsonst die "europäischen Russen". Weil unsere Kultur eng mit der estnischen und europäischen verbunden ist."

In spätestens zwei Jahren will Yevgeni eine Familie gründen. Zusammen mit seiner Frau, einer gebürtigen Russin, die genauso perfekt Estnisch spricht wie er, hat er sich schon schlaugemacht, ob es in Narva jetzt auch schon estnische Kindergärten gibt. Yevgeni strahlt: Es gibt sie. Schließlich sollen seine Kinder auch einmal richtige Esten werden.
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