Fremd in der Kunst, fremd im Leben

Rezensiert von Olga Hochweis |
Seinen ersten Roman "Die Fremden" hat Ivan Cankar (1876-1918) in etwas mehr als einem Monat im Frühsommer 1901 als 25-Jähriger geschrieben. Darin wird das Topos der Fremdheit in vielfacher Hinsicht dargestellt: Es geht um die Fremdheit des Künstlers in der Gesellschaft, um die Fremdheit des Emigranten, aber auch die Entfremdung des Menschen in einer früh industrialisierten Welt.
Fremde sind für Cankar darüber hinaus auch die Bewohner seiner Heimat Slowenien, die sich mit der modernen Welt und vor allem einer neuen zeitgenössischen Kunst nicht auseinandersetzen wollen.

Protagonist des Romans ist der Bildhauer Pavle Slivar, der in Ljubljana einen Wettbewerb für ein Dichterdenkmal gewinnt, trotzdem keinerlei Unterstützung und Anerkennung findet und deshalb resigniert nach Wien geht. Doch auch dort ist er ein Niemand: fremd in der Künstlerszene, als auch in den Emigrantenkreisen, darüber hinaus eine unruhige "Wandererseele" und von grüblerischen Selbstzweifeln geplagt.

Noch stärker als in der Heimat gerät Slivar bald in existentielle Not und ist gezwungen, zum Broterwerb ungeliebte Auftragsarbeiten zu übernehmen. Als er sich in eine junge Näherin verliebt, werden Getriebenheit und Einsamkeit vorübergehend schwächer. Sein künstlerisches Selbstbewusstsein steigt wieder, Ideen fallen ihm zu und Slivar glaubt, in der Ehe und einem neuen Zuhause sein emotionales und materielles Gleichgewicht zu finden.

Doch das Gegenteil ist der Fall: Die ständigen Geldnöte und der Druck, die alten Eltern und kranke Schwester seiner Frau mit zu unterhalten, zermürben ihn. Die Aufträge bleiben aus und die kaum genesene Ehefrau muss bald die Familie mit ihren Näharbeiten ernähren. Und auch künstlerisch erfährt Slivar größtmögliche Demütigung, als er erfährt, dass ein anderer Entwurf für das Dichterdenkmal in Slowenien realisiert wird. Slivar sieht keinen anderen Ausweg als den Freitod.

Psychologisch genau, durch innere Monologe, Traumwiedergaben und sehr einfühlsame Beschreibungen schildert Cankar seinen tragischen Helden. Diese starke Innenperspektive ergänzt er durch eine gesellschaftliche Einbettung, u.a. durch Gespräche über die Rolle der Kunst in Akademikerkreisen sowohl in Ljubljana und Wien.

So zeichnet Cankar seinen Protagonisten nicht als eine einzelne gescheiterte Figur, sondern als Prototyp des slowenischen Künstlers, an dem er allgemeine Existenzprobleme von slowenischen Künstlern der Jahrhundertwende zeigt. In Slowenien haben sie keine Perspektiven, so Cankar, der seinen Roman selbst als "tendenziös" bezeichnete und seine Enttäuschung über das mangelnde Kunstverständnis in seinem Land nicht verbarg.

Im besten Falle, so Cankar, wird in Slowenien Kunst nur für nationale Fragen instrumentalisiert. In Wien wiederum ist der Künstler in der Isolation, wenn er nicht bereit ist, sich anzupassen, und gerät in den Existenzkampf.

"Die Fremden" thematisiert auch gerade diese soziale Härte und Unmenschlichkeit der Lebensbedingungen für das Wiener Proletariat um 1900; etwas, das Cankar kennenlernte, als er mehr als ein Jahrzehnt in der Vorstadt Ottakring wohnte, die um die Jahrhundertwende zu den Wiener Bezirken mit der geringsten Lebenserwartung zählte: Ausbeutung in den Fabriken, Arbeitsbedingungen, Schwindsucht, Alkoholismus, aber auch elende Wohnverhältnisse werden genau beschrieben und bestätigen seinen Ruf als sozialkritischen Autor.

Der Roman erscheint erstmals in deutscher Sprache - ein Verdienst des Klagenfurter Drava-Verlags, der seit Mitte der 90er Jahre eine große Werkausgabe von Ivan Cankar herausgibt und damit zur längst fälligen Wiederentdeckung eines großartigen Schriftstellers von Weltrang beiträgt.


Ivan Cankar: Die Fremden
Roman. Übersetzt aus dem Slowenischen und mit einem Nachwort von Erwin Köstler
Drava Verlag, Klagenfurt,
256 Seiten. 19,50 Euro