Freitod eines Freigeistes

Von Ruth Fühner · 16.03.2013
Eine "Chronique Scandaleuse" der "modernen Völkergesellschaft" – so verstand der Schriftsteller Egon Friedell seine "Kulturgeschichte der Neuzeit". Die Nazis beschlagnahmten den ersten Teil des Werks; nach dem Krieg wurde es in viele Sprachen übersetzt und wird bis heute neu aufgelegt.
"Die älteste Ostmark des deutschen Volkes soll von jetzt ab das jüngste Bollwerk der deutschen Nation und damit des deutsches Reiches …"

Zehntausende jubelten Adolf Hitler am 15. März 1938 auf dem Wiener Heldenplatz nach dem "Anschluss" Österreichs zu. In seiner Wohnung in der Gentzgasse dachte der Schriftsteller Egon Friedell an Selbstmord.

Friedell, geboren 1878 als Egon Friedmann, entstammte einer jüdischen Fabrikantenfamilie. Ein üppiges Erbe ermöglichte ihm die freie Wahl seines Lebensstils. Als glänzender, hochgebildeter Unterhalter avancierte er – noch während der Arbeit an seiner Dissertation – zusammen mit dem Dichter Peter Altenberg zu einem Zentralgestirn der Wiener Kaffeehaus-Szene; seine Lust an Widerspruch und der satirischen Zuspitzung lebte er als künstlerischer Leiter des Kabaretts "Fledermaus" aus. Eine seiner Glanznummern, "Goethe im Examen", ein Gemeinschaftswerk mit Alfred Polgar, in dem Goethe eine Prüfung zu seinem eigenen Leben ablegen muss, wurde zum viel nachgespielten Dauerbrenner – hier mit Joseph Offenbach als Goethe:

"Wissen Sie zufällig, was Goethes Hauptwerk war?"
"Na, die Farbenlehre natürlich."
"Was ist denn da zu lachen?"
"Das ist allerdings nur zum Weinen."
"Wann entstand Tankred?"
"1800."
"1800. Ein Wunder, dass Sie einmal was wissen. Welche Werke entstanden in diesem Jahr noch?"
"Noch? N‘paar Gedichtcher denk ich."
"Das ist keine Antwort! Gedichte fallen Ihnen jedes Jahr."


Den Ersten Weltkrieg begrüßte Friedell als "Stoffwechselsteigerer" und "Entwicklungsbeschleuniger". Vom Militärdienst wegen Gewichts- und Alkoholproblemen befreit, veranstaltete er patriotische "Kriegsabende" zur "Stärkung der Kampfmoral", an denen sich reaktionärer Chauvinismus und Friedell-typischer Unernst mischten:

"Japan ist eine Mottenplage, Menagerievölker wie die Serben und Montenegriner sind vollends indiskutabel."

Nach dem Krieg arbeitete Friedell als Journalist und Theaterkritiker, aber auch für die "Gegenseite" - als Dramaturg, Regisseur und Schauspieler an Max Reinhardts Theatern in Wien und Berlin. Sein eigentliches Lebenswerk begann er mit knapp 50 Jahren: die Arbeit an der "Kulturgeschichte der Neuzeit", die lange nach seinem Tod zum Bestseller wurde. Ausgestattet mit enzyklopädischem Wissensvorrat und großem Einfühlungsvermögen, entfaltet Friedell eine radikal subjektive Sicht auf die Krisen Europas seit der Pest im
14. Jahrhundert.

"Oft wird ein ganzer Mensch durch eine einzige Handbewegung, ein ganzes Ereignis durch ein einziges Detail schärfer, einprägsamer, wesentlicher charakterisiert als durch die ausführlichste Schilderung. Kurz: die Anekdote in jederlei Sinn erscheint mir als die einzige berechtigte Kunstform der Kulturgeschichtsschreibung. … Die Übertreibung ist das Handwerkszeug jedes Künstlers und daher auch des Historikers."

Friedells unumstrittene Helden sind die Dichter und Denker – und mit Vorliebe jene, bei denen eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm selbst nicht zu leugnen ist:

"Bei einem Denker sollte man nicht fragen: welchen Standpunkt nimmt er ein, sondern: wie viele Standpunkte nimmt er ein? Mit anderen Worten: hat er einen geräumigen Denkapparat oder leidet er an Platzmangel, das heißt: an einem ‚System‘?"

Im "geräumigem Denkapparat" des konvertierten Juden Friedell war auch Platz für Antisemitismus, und das Ressentiment gegen die Demokratie ist in seiner "Kulturgeschichte" unübersehbar. Kein Wunder, dass er eine Zeit lang glaubte, sich mit den Nazis arrangieren zu können. Selbst als er schon sah, was mit dem so genannten Dritten Reich angebrochen war:

"Das Reich des Antichrist. Jede Regung von Noblesse, Frömmigkeit, Bildung, Vernunft wird von einer Rotte verkommener Hausknechte auf die gehässigste und ordinärste Weise verfolgt."

Seit der Annexion Österreichs musste sich Friedell auch persönlich verfolgt fühlen. Anders als Stefan Zweig, Joseph Roth oder der Freund Carl Zuckmayer wählte er nicht das Exil. Vergeblich versuchte er, an eine Schusswaffe oder Gift zu kommen. Als am Abend des
16. März 1938 die SA an seiner Tür klingelte und fragte, ob da "der Jud Friedell" wohne, stürzte er sich aus dem Fenster. Er war sofort tot. Augenzeugen berichten, er habe die Passanten noch mit dem Ausruf "Treten Sie zur Seite!" gewarnt.
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