Freiheitsinteressen in der Demokratie

Von Hermann Lübbe |
Karl Marx hatte ja Recht: Die Interessen eines Eigentümers sind mit den Interessen der politisch organisierten Gemeinschaft nicht identisch. Aber Marx irrte sich, wenn er annahm, die Liquidation aller Gelegenheiten, ein Eigeninteresse auszubilden, fördere wie nichts anderes das Gemeinwohl und so das Interesse aller.
Auch in moderaten Formen ist der Irrtum, das Interesse für die Freiheit werde vor allem durch Interessentenfreiheit geschwächt, weit verbreitet – unter Intellektuellen vor allem, in anrührender Gestalt bei Hannah Arendt zum Beispiel. In ihrem Revolutionsbuch feierte sie die amerikanische wie die französische Revolution überzeugt und überzeugend als Grossereignisse der Freiheitsgeschichte. Am Ende ihrer Betrachtungen finden wir aber Hannah Arendt von Geschichtstrauer ergriffen. Beide Revolutionen seien ja schliesslich gescheitert. Der Aufbruch zu republikanischer Freiheit sei schliesslich erschlafft in der Neuzuwendung der Bürger zu den trivialen Zwecken der Wohlfahrt und der sozialen Sicherheit, so vor allem in Amerika. Die vollendete Freiheit erscheint dann demgegenüber als eine von ökonomischen Interessen gereinigte Freiheit.

Sogar noch manche Kommentare bei der weltgeschichtlichen Gelegenheit des Zusammenbruchs des real existent gewesenen Sozialismus sind von diesem politromantischen Freiheitskonzept mitbestimmt gewesen. "D-Mark-Nationalismus!" – so lautete eine prominente Diagnose der Bewegtheit, die beim Mauerfall die Massen zu Zehntausenden aus dem Osten Deutschlands in den Westen aufbrechen liess. Etwas gröberen Analytikern genügte sogar eine vor die Fernsehkamera gehaltene Banane zur Charakteristik der Freiheit, von der hier das Volk Gebrauch zu machen ungeniert genug war.

Man erkennt: Etliche Freiheitsfreunde unter den Philosophen haben Schwierigkeiten, die Trivialität der Lebenszwecke zu ertragen, die uns gemeinhin und alltagspraktisch an Freiheit interessiert sein lassen. Gewiss: Freiheit wider ihre Feinde zu erringen und zu verteidigen ist ohne Pathos nicht möglich und die Feier der wieder gewonnenen Freiheit erhebt uns. Aber Freiheit zu leben und verlässlich zu machen verlangt von uns, statt politischen Enthusiasmus, kluge, nämlich erfahrungsgesättigte Schätzung ihrer Lebensvorzüge. Freiheitspolitik schützt die Rechtsbedingungen der Inanspruchnahme dieser Lebensvorzüge, aber es erzeugt sie nicht.

Das wird bei geeigneter Charakteristik der Freiheitsrechte, wie sie in modernen Verfassungen konstituiert sind, evident. Was garantieren diese Rechte denn? Sie garantieren die politische Unverletzlichkeit jener Lebensbereiche, die wir von der Religion bis zur Wissenschaft, vom Eigentum bis zur Familie gerade nicht der Verfügung des Staates oder gar eines einheitsparteilich ausgelegten Volkswillens überlassen möchten. Man kann auch sagen: Im Unterschied zu den totalitären Demokratien sind die liberalen freiheitsrechtsgebundenen Demokratien gerade durch die Tendenz fortschreitender Ausweitung derjenigen Lebensbereiche charakterisiert, die sich bei Strafe des Untergangs ihrer Freiheiten nicht politischen Mehrheitsentscheiden unterwerfen lassen und die man genau in diesem Sinne auch nicht demokratisieren kann.

Das bedeutet zugleich: Demokratie ist keineswegs eo ipso eine politische Ordnung der Freiheit. Nie haben die Menschen unfreier als in den totalitären Demokratien des fürchterlichen zwanzigsten Jahrhunderts gelebt. "Veredelte Demokratie" – so charakterisierte sogar Joseph Goebbels die nationalsozialistische Einheitsparteiherrschaft mit ihrer Massenakklamation des Volksführerwillens, und Goebbels meinte das nicht zynisch, sondern ideologiefromm. Aber die liberalen Demokratien haben sich als die stärkeren erwiesen, und die eindrucksvolle Geschichte der Positivierung der Freiheitsrechte, auf die wir inzwischen zurückblicken können, entspricht dem. Alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen anerkennen heute förmlich die Menschenrechte als "Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens".

Die Durchsetzungskraft, die die Freiheitsinteressen inzwischen politisch gewonnen haben, erwächst dabei nicht nur aus den Lebenserfahrungen ihrer gewalttätigen Unterdrückung. Analog wirkt auch schon die Erfahrung ihrer Ineffizienz auf politische Systeme zersetzend, die vermeinen, zivilisatorische Modernität ohne Rücksicht auf individuelle und gruppenspezifische Freiheitsinteressen plangerecht fördern zu können. Der Zusammenbruch des Realsozialismus sei von den Wissenschaftlern nicht vorausgesehen worden – so lautete in den neunziger Jahren eine populäre Kritik an die Adresse der Theoretiker und Historiker.

In Wahrheit war diese Voraussicht - selbstverständlich nicht auf ein Jahrzehnt oder gar auf ein Jahr bezogen - weit verbreitet, in der Ankündigung Talcott Parsons zum Beispiel, der schon in den sechziger Jahren schrieb, die sozialistischen Systeme müssten sich entweder liberalisieren, bis sie aufhören, noch sozialistisch zu sein, oder sie würden schliesslich zusammenbrechen. Die Basis dieser Prognose war das inzwischen längst bestätigte Theorem, dass hoch entwickelte Zivilisationen ihrer Komplexität wegen allein schon aus organisationstechnischen Gründen auf Liberalisierung angewiesen sind.


Hermann Lübbe, geboren 1926 in Ostfriesland, studierte Theologie und Philosophie, promovierte in Freiburg und habilitierte sich 1956 in Erlangen. Neben seinen Lehrtätigkeiten war Lübbe zeitweise Staatssekretär für Hochschulangelegenheiten. 1971 wurde er als Professor für Philosophie und Politische Theorie an die Universität Zürich berufen. Das Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Akademien (u. a. des PEN und des "Bundes Freiheit der Wissenschaft") gilt als einer der einflussreichsten Köpfe der Gegenwartsphilosophie. Seit seiner Emeritierung ist er weiterhin als Honorarprofessor tätig. Lübbe ist Autor zahlreicher Publikationen, zuletzt erschienen u. a. "Ich entschuldige mich. Das neue politische Bußritual" und "Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart".