Freiheitserleben im Walde

Von Christian Berndt |
Getragen von Reformideen und durch die Gründung des "Wandervogels" 1901 zu einem landesweiten Phänomen angewachsen, verhieß die deutsche Jugendbewegung ein neues Zeitalter des freien Menschen, aber sie endete schließlich im NS-Staat. Trotzdem wirken ihre Ideen bis heute nach.
Es beginnt 1896 mit einem Studenten, der am Gymnasium des Berliner Vorortes Steglitz unterrichtet. Weil er gerne wandert, unternimmt er mit den Schülern ausgedehnte Touren. Nach seinem Weggang initiiert der begeisterte Schüler Karl Fischer 1901 die Gründung eines Vereins: "Wandervogel. Ausschuss für Schülerfahrten". Es ist nichts anderes als eine Wanderinitiative, aber binnen weniger Jahre wird daraus eine ganze Jugendbewegung. Das Wandern trifft damals einen Nerv.

Das Deutsche Reich ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine prosperierende Großmacht, die Folgen von Industrialisierung und Modernisierung bringen dramatische Veränderungen für die Gesellschaft. Es kommen lebensreformerische Ideen in Mode, die eine Rückkehr zu natürlichen, ganzheitlichen Gesellschaftsformen propagieren. Diese stoßen auch auf Gehör bei einem Bildungsbürgertum, das vom neuen, entfesselten Kapitalismus verunsichert ist. Vor allem aus dieser gut situierten Schicht stammen die wandernden Jugendlichen, die weg von moderner Urbanität zurück zur Natur wollen. Gleichzeitig aber schütteln sie ganz modern bürgerliche Konventionen ab.

Erstmals begreifen sich Jugendliche als eigene Kraft: Sie tragen kurze Hosen und offene Hemden und ziehen ohne elterliche Aufsicht ins Grüne. Wichtig fürs Gemeinschaftsgefühl ist das Singen von Volksliedern – alte Traditionen und Rituale gehören dazu. 1905 wird der erste Wandervogel für Mädchen gegründet – eine völlig neue Entfaltungsmöglichkeit, wie damals eine Teilnehmerin schreibt:

"Wir saßen am Waldrand und sonnten uns, wir acht Mädels, ganz allein, ohne männlichen Schutz. Wie froh wir über die ersehnte Freiheit waren, tun zu können, was das Herz begehrt: Laufen und springen, klettern und schwimmen und tanzen, und frei und fröhlich sein."

Die Jugendbewegung bedeutet Befreiung, aber keine Rebellion. Die zumeist bürgerlichen Jugendlichen verstehen sich als unpolitisch, sind allerdings mehrheitlich an den deutsch-nationalen Ideologien der Zeit orientiert. Als der I. Weltkrieg ausbricht, ziehen die meisten von ihnen begeistert ins Feld.

Nach Kriegsende beginnt die Phase der bündischen Jugend. Nun zählt stärker das Kollektiv, mit der Demokratie vertragen sich die meist elitären und am Führergedanken orientierten Vorstellungen nicht. Als 1933 die Nazis an die Macht kommen, werden die Bünde ohne große Gegenwehr aufgelöst. Es gibt noch vereinzelte illegale bündische Aktivitäten, die Zeit der deutschen Jugendbewegung aber ist vorbei.