Freiheit statt Sicherheit!

Von Wolfgang Sofsky · 15.07.2007
Es herrscht große Aufregung. Nach und nach verkündet der zuständige Minister Details für den imaginären Terrorkrieg hierzulande. Verdächtige sollen vorsorglich vom Telefonverkehr ausgeschlossen, inhaftiert oder getötet werden. Heimische Schreibtische sollen summarisch durchsucht, das Briefgeheimnis aufgehoben werden.
Der Tatbestand der subversiven Verschwörung ist bereits bei einer Zelle aus zwei Geheimbündlern erfüllt, und zum inneren Staatsschutz sollen nun auch Fallschirmjäger und Feldartilleristen eingesetzt werden. Die Obrigkeit beabsichtigt, ihre Freiheit auszudehnen, unter dem Vorwand fiktiver Sicherheit und auf Kosten bürgerlicher Rechte.

Die patriotischen Gedankenspiele entsprechen dem inneren Zustand einer ängstlichen Demokratie. Während die einen furchtsam jede Gefahr verleugnen, spielen die anderen mit Angst und Alarmismus. Sie wollen den Untertanen das rechte Fürchten lehren. In der Bevölkerung finden Zwangsdekrete stets Applaus. Der furchtsame Untertan sucht nicht Schutz vor dem Staat, sondern Schutz durch den Staat. Sicherheit geht ihm vor Freiheit. Nach jedem wirklichen oder eingebildeten Zwischenfall fordert er strengere Vorkehrungen. Und die politische Elite, die keinesfalls untätig dastehen will, erfindet rasch allerlei Erlasse. Die Sicherheitspropaganda sucht zuallererst, Wählerstimmen zu sichern. Sie will den Eindruck erwecken, dass alles für den Ernstfall getan werde. In Demokratien treiben sich ängstliche Wähler und nervöse Repräsentanten gegenseitig zur Überreaktion.

Von der realen Bedrohung ist die hypothetische Debatte weit entfernt. Deutschland befindet sich nicht im Terrorkriegszustand, auch wenn deutsche Truppen in der Ferne gelegentlich unter Beschuss geraten. Die Zahl der Anschläge hierzulande ist Null, die Zahl der verhinderten Attentate liegt bei drei bis fünf innerhalb von sieben Jahren. Die Wahrscheinlichkeit, bei einem Verkehrsunfall ums Leben zu kommen, ist um ein Vielfaches höher, als bei einer Bombenexplosion verletzt zu werden. Auch nach einer Serie von Anschlägen wären weder die Existenz der Gesellschaft noch die staatliche Ordnung bedroht. Der Ausnahmezustand ist weit und breit nicht in Sicht. Berlin ist weder Bagdad noch Islamabad.

Besonderer Beliebtheit erfreut sich die Idee, Freiheit und Sicherheit müssten in eine rechte Balance gebracht werden. Nichts ist irreführender als diese Metapher. Vielleicht wäre die Gesellschaft sicherer, wenn die Polizei alle Menschen wegsperren dürfte, von denen sie annimmt, dass sie irgendwann in Zukunft ein Verbrechen verüben könnten. Womöglich fühlten sich manche Zeitgenossen sicherer, wenn man die Schuldvermutung an Stelle der Unschuld setzte und wenn man sämtliche Gespräche aufzeichnen und alle Gedanken zensieren würde. Aber die freie Gesellschaft hat sich nicht aus der bänglichen Abwägung entwickelt, wie viel Risiko wir denn wohl eingehen wollen, sondern wie wir die Freiheit gegen staatliche Vormacht schützen können. Vor dem Gesetz sind alle gleich: der Mordangeklagte genießt nicht weniger Schutz als jemand, der des Überquerens einer roten Ampel beschuldigt wird. Wann immer einer Minderheit Rechte abgesprochen werden, die für alle gelten, werden Recht und Gerechtigkeit unterhöhlt, besonders wenn diese Gruppe ohnehin politisch verletzlich ist, wie es für fremde, religiös oder ethnisch identifizierbare Menschen gilt.

Notmaßnahmen, welche Freiheiten aufheben, um die Freiheit zu sichern, haben stets folgenden fünf Kriterien zu genügen. Sie müssen erstens strikt befristet sein für den Zustand der Ausnahme. Nur solange eine Katastrophe anhält oder eine Gefahr unmittelbar droht, dürfen verbürgte Freiheiten kurzzeitig aufgehoben werden.

Zweitens sind Vorkehrungen nur bei einer hochwahrscheinlichen Gefahr statthaft. Vage Vermutungen über ein "abstraktes" Unheil rechtfertigen Zwang ebenso wenig wie akute Panik, chronische Ängstlichkeit oder Phantasien über den schlimmstmöglichen Fall. Nur wenn sich überzeugend dartun lässt, dass Repression eine nahe Not wendet, ist sie erlaubt.

Drittens müssen Maßnahmen verhältnismäßig und zweckmäßig sein. Eine mögliche Katastrophe mit katastrophalen Mitteln zu bekämpfen, ist absurd. Freiheit ist nicht dadurch zu schützen, dass man sie Zug um Zug eliminiert. Die vorsorgliche Inhaftierung von Personen, die gefährlich werden könnten, zerstört den Grundsatz, dass nicht Gesinnungen, sondern Taten bestraft werden. Notwendige Informationen lassen sich ohnehin durch kluge Geheimoperationen weit besser ermitteln als durch die Änderung von Grundgesetzen.

Viertens bedarf die Beschneidung der Bürgerrechte der eindeutigen Autorisierung durch die Legislative. Eine umfassende öffentliche Debatte ist unabdingbar für die Legitimierung von Zwangsmaßnahmen. Der Exekutive ist es untersagt, in eigener Regie in verfassungsrechtlich sensible Bereiche einzudringen. Und schließlich haben die Beschneidungen für alle Untertanen zu gelten und nicht nur für ungeliebte Minderheiten. Wer Repression fordert und unterstützt, soll auch die Belastungen tragen, die aus den Maßnahmen entstehen. Die Gleichheit vor dem Gesetz gilt auch für Freiheitsbeschränkungen. Gedankenspiele für Mehrheiten, die sich selbst von Zwangsmaßnahmen nicht betroffen fühlen, sind eine wohlfeile politische Taktik. Aber sie beweisen weder Fachkompetenz im Kampf gegen den Schrecken noch politische Verantwortung.

Wolfgang Sofsky, Jahrgang 1952, ist freier Autor und Professor für Soziologie. Er lehrte an den Universitäten Göttingen und Erfurt. 1993 wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Er publizierte u.a.: "Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager" (1993), "Figurationen sozialer Macht. Autorität - Stellvertretung - Koalition" (mit Rainer Paris, 1994) und "Traktat über die Gewalt" (1996). 2002 erschien "Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg", und zuletzt der Band "Operation Freiheit. Der Krieg im Irak".
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