Freiheit statt Schicksal

Außer einer beeindruckenden Lebensgeschichte ist "Ein ungezähmtes Leben" auch eine weibliche Variante des US-amerikanischen Mythos von starken, unbeugsamen Menschen, die ihr Leben selbst gestalten und sich niemals vom Schicksal besiegen lassen.
Jeannette Walls erster Roman "Schloss aus Glas" erzählte die Geschichte ihrer eigenen Kindheit. Auch ihr zweiter Roman (von ihr selbst "True Life Novel" genannt) erzählt eine wahre Geschichte, nämlich die ihrer Großmutter Lily Casey Smith, die starb, als Walls acht Jahre alt war. Die Autorin lässt die Heldin selbst in der Ich-Form erzählen. Sie wächst mit einem Bruder und einer Schwester auf einer armseligen Ranch in West-Texas auf. Als Älteste kümmert sie sich um alles, während ihre Mutter sich über das jämmerliche Landleben beklagt und der Vater Phantastereien nachjagt.

Lily liebt die Ranch, sie geht begnadet mit Pferden um, und sie ist intelligent und möchte gern Lehrerin werden. Da ihr Vater jedoch das Schulgeld für vier Dänische Doggen ausgibt, muss Lily nach einem halben Jahr die Schule verlassen. Lehrerin wird sie mit 15 (!) dennoch: in Zwergschulen in verschiedenen gottverlassenen Dörfern (wohin sie in wochenlangen einsamen Ritten quer durch das Land reist). Aber sie wird immer wieder entlassen, entweder weil ihr der Schulabschluss fehlt oder weil sie unerbittlich ihre eigenwilligen Vorstellungen vertritt.

Einige Jahre als Dienstmädchen in Chicago, wo sie Geld fürs College verdienen möchte, enden in der Ehe mit einem Bigamisten, der ihr ganzes Geld stiehlt. Vorher ist auch noch ihre beste Freundin bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen. An dem Punkt möchte man als Leserin schier verzweifeln über das Unglück, das dieser jungen Frau widerfährt, und über den Verrat durch Vater, Mutter, Ehemann, die Nonnen in der Schule, ihre Arbeitgeber. Und man staunt über die ungebrochene Lebenskraft Lilys, die alles pragmatisch, unsentimental und ohne Bitterkeit erzählt. Ob das immer so stimmt oder nicht: Es vermittelt literarisch überzeugend eine Haltung gegenüber dem Leben.

Lilys Leben wird besser, wenn auch niemals leicht. Sie führt eine gute zweite Ehe, wird Mutter, Rancherin und Lehrerin und arbeitet härter denn je. Als einzigen Luxus gönnt sie sich gelegentliche Flugstunden. In den Mittelpunkt der Erzählung gerät gegen Ende Lilys höchst eigenwillige älteste Tochter Rosemary, die künstlerisch begabt ist, den Phantasten Rex heiratet und bereits in "Schloss aus Glas" als Jeannette Walls Mutter eine Rolle spielte.

Stilistisch nähert sich "Ein ungezähmtes Leben" einer mündlichen Erzählung an. Zwar wird rückblickend erzählt, aber die Perspektive ist nicht die der Erinnerung des gealterten Menschen an eine ferne Zeit, sondern die der lebendigen Vergegenwärtigung. Die Erzählung enthält Leerstellen, die wir als Leserinnen selbst ausfüllen müssen, dann wieder überraschend viele Details. Sie meidet Sentimentalitäten, Reflexionen und Psychologisierungen und orientiert sich stattdessen an den Tatsachen.

Außer einer beeindruckenden individuellen Lebensgeschichte ist dieser Roman auch eine weitere, weibliche Variante des US-amerikanischen Mythos von den starken, unbeugsamen und dem Land eng verbundenen Menschen, die ihr Leben selbst gestalten und sich niemals vom Schicksal besiegen lassen. Es ist der Mythos von der Freiheit und davon, dass jeder seines Glückes Schmied ist.

Besprochen von Gertrud Lehnert

Jeannette Walls: Ein ungezähmtes Leben
Aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Hoffmann und Campe, Hamburg 2010
365 Seiten, 20 Euro