Freiheit durch Literatur
Azar Nafisi beschreibt in ihrem Bestseller "Lolita Lesen in Teheran" ihre Erfahrungen mit einem privaten Lesekreis für sieben ihrer ehemaligen Studentinnen. Nafisi glaubt, dass die Unterdrückung von Demokratie, Menschen- und Frauenrechten genau diese Themen so wichtig hat werden lassen im Iran.
Azar Nafisi: Für mich sind Imagination und Phantasie die Brücke zwischen der inneren und der äußeren Welt und immer dann, wenn eine von beiden ausgelöscht oder zurückgedrängt wird, gerät unser Leben aus dem Lot. Wir brauchen beides, Realität und täglichen Routinen und dann eben auch die Fähigkeit, diese Realität zu imaginieren, um sie beherrschen zu können. Wenn wir nicht darüber reden, was uns geschehen ist, dann ist das, als hätten wir nie existiert. Die Vorstellungskraft ist der Hüter des Gedächtnisses. Ohne sie wissen wir nicht, wie wir gelebt haben. Und wenn wir das nicht wissen, wie können wir entscheiden, wie wir leben werden?
Wahlster: Wie sieht das aus im Iran nach Ihren Erfahrungen? Heißt das, jedes Gespräch über eigenes, über Dinge, die einen betreffen, finden dann nur im Verborgenen statt, im geschützten privaten Raum, so wie Ihr Lesekreis mit den sieben Studentinnen?
Azar Nafisi: Im Iran geschieht alles, was das eigene, private Selbst betrifft, im Untergrund. Das gilt auch für die Artikulation des privaten Ich zum Beispiel im Kino, im Theater, in Fiktion oder Poesie. Um zu tanzen, müssen wir die Fenster schließen. Wenn ich aussehen will, wie mir das gefällt, dann kann ich nicht nach Draußen gehen, dann muss ich nach Innen. Deswegen sind private Räume so wichtig geworden, weil wir dort die Verhältnisse unterlaufen und uns so verhalten können, wie es uns das Gesetz nicht erlaubt. Wahrscheinlich ganz ähnlich wie früher in Osteuropa. Vaclav Havel spricht von der Macht der Ohnmächtigen, von der Macht des Jazz und der Rockmusik. Mich erinnert das an den Iran.
Wahlster: Heißt das, Sie geben dieser Macht der Ohnmächtigen tatsächlich auch die Chance, etwas zu bewirken?
Azar Nafisi: Auf jeden Fall. Ich glaube nicht einfach nur an politische Veränderung. Veränderung muss mehr sein, eher existentiell: es geht um das Recht des Individuums, seine Potentiale voll auszuschöpfen - in jedweder Art (natürlich ohne damit anderen Schaden zuzufügen). Nabokov sagt, Regierungen kommen und gehen und nur die Spur des Geistes bleibt. Politische Systeme ändern sich. Aber wir müssen auch unsere Mentalität, unsere Haltungen ändern. Das geht nur durch Reflexion, Nachdenken, Vorstellungskraft und Austausch mit anderen.
Wahlster: Aber es gibt entscheidende Mauern, Ihr Weggang aus Teheran zum Beispiel, also ihre Emigration in die USA hat bei den jungen Frauen, die Sie unterrichtet haben, denen Sie den Freiraum geboten haben, Wut, Trauer ausgelöst, Groll, Verstörung. Was ist mit denjenigen, die unter den Verhältnissen leiden? Findet für die das Leben anderswo statt, sind sie permanent im Wartestand?
Azar Nafisi: Zum Teil ja. Manche empfinden es so, als würde sich das Leben draußen in der Welt ohne sie abspielen. Aber das Spannende an einem Land wie Iran ist, wie die Menschen die Welt hereinholen, indem sich junge Leute zum Beispiel für Hannah Arendt und Karl Popper interessieren, trotz der Dinge, die ihnen in den Schulen und an der Universität beigebracht werden. Sie unterlaufen das. Das geht sogar so weit, dass viele in den Behörden, die einst strenggläubige Revolutionäre waren, Dissidenten wurden, sich mittlerweile geändert haben und Dinge von Außen ins Land bringen.
Wahlster: Für diejenigen, die keinen Zugang haben zu Karl Popper, zu Philosophie, zur Literatur auch des Westens, wie Ihre Studentinnen z.B., wo oder wie können die sich mit inneren Welten beschäftigen, mit Verhältnissen, die sie berühren, die ihnen fremd sind, etwas abverlangen, sie zu eigenständigen Menschen machen?
Azar Nafisi: Natürlich sollte man nicht generalisieren. Meine Situation ist anders als die der Menschen, die im Iran leben. Aber was wir wahrscheinlich doch der islamischen Revolution verdanken, ist dass die Infragestellung von Demokratie, Menschen- und Frauenrechten genau diese Themen so ungeheuer wichtig hat werden lassen. Das sind keine Fragen der Elite mehr wie vor der Revolution, sondern in normalen Haushalten. An die Islamische Revolution glaubten zu Anfang viele traditionelle Frauen - später waren genau sie es, die begriffen haben, wie schlecht sie durch die neuen Gesetze gestellt wurden. Weil sie mehrere Frauen neben sich dulden müssen, weil sie sich nicht gegen schlagende Ehemänner wehren können.
Die Revolution hat dazu geführt, dass sich die Menschen im Iran als Fragezeichen verstehen. Und dann kommt verbotene westliche Kultur natürlich über Satelliten herein. In ärmeren Gegenden werden sogar Tickets verkauft. Baywatch und Soap-Operas gehören zu den beliebtesten Programmen. Baywatch kommt in den Iran gemeinsam mit Heinrich Böll und Hannah Arendt. (Lachen)
Wahlster: Einerseits stellen die Iraner sozusagen das große Fragezeichen an die islamische Revolution, an ihre Gegenwart. Aber es gibt ja auch von außen ein großes Fragezeichen gegenüber dem Iran. Wie erleben Sie das? Wie berechtigt erscheinen Ihnen diese Vorwürfe, die es da gibt?
Azar Nafisi: Wir müssen uns gegen die Homogenisierung der Menschen wehren, wenn kein Unterschied gemacht wird zwischen der iranischen Regierung und den Menschen in Iran. Das sind immerhin 70 Millionen, viele, mit denen ich ganz und gar nicht einer Meinung bin, aber ich bin für mehr Differenzierung im Westen. Wir dürfen nicht vergessen, dass es der Islamischen Republik auch nach 30 Jahren nicht gelungen ist, den Schleier so durchzusetzen, wie sie sich das ursprünglich vorgestellt hatte. Nicht die Frauen haben gegenüber dem Regime nachgegeben, es ist umgekehrt. Es gibt keine bewaffneten Moraljäger mehr in den Straßen. Und sie haben es auch immer noch nicht geschafft, Männer und Frauen davon abzuhalten, verbotene Literatur zu lesen oder nur auf bestimmte Art zu schreiben. Das sollte man hier verstehen und nicht nur vom guten Herrn Chatami und vom bösen Herrn Ahmadineschad sprechen. Man muss die gesamte Gesellschaft in Betracht ziehen.
Wahlster: Was finden Sie in iranischer Literatur heute? Welche Themen werden da wie verhandelt, weil vorhin haben Sie gesagt, es ist so schwer, überhaupt über innere, private Dinge zu sprechen.
Azar Nafisi: Vieles ist zensiert worden zu Beginn der Islamischen Republik. Auch sehr populäre Literatur. Die Literatur wurde dann sehr schnell sehr ideologisch und sehr politisch. Heute ist das ganz anders. Da geht es ums Private, nicht um Begriffe und große Ideen. Individuen, ihre eigene Stimme und individuelle Beziehungen stehen im Vordergrund. Das geht gerade erst los, aber wenn sich das entwickelt, werden wir wunderbare Sachen sehen.
Wahlster: Sie können vergleichen: Sie unterrichten jetzt in den USA, haben mit Ihrem Buch "Lolita lesen in Teheran" eine sehr berührende Erfahrungsgeschichte niedergeschrieben, was Literatur bedeuten kann, wenn man offiziell bestimmte Dinge nicht wissen darf, nicht diskutieren soll. Welche Rolle spielt Literatur für die Studierenden in den USA? Sie brauchen sie nicht als Überlebensmittel, sie brauchen sie nicht als Denkvorlage oder Phantasiemotiv.
Azar Nafisi: Ist es nicht seltsam, dass ich in den USA einen ähnlichen Kampf führe. Selbstverständlich sind beide Länder nicht zu vergleichen, die USA sind eine Demokratie. Aber man geht dort doch eher davon aus, dass die Literatur und das Denken Nebensache sind. Wozu soll es gut sein, Fitzgerald zu lesen? Ich unterrichte unglaublich gerne und im Iran gibt es diesen Enthusiasmus der Studenten, Hunger nach Literatur. Das finden Sie in den USA nicht. Allerdings ist die Meinungsfreiheit dort eine wunderbare Sache. Sie haben keine Angst vor Autoritäten, sie können mich in Frage oder unsere Lektüre in Frage stellen. Sie brauchen keine Angst zu haben, was immer sie über sich sagen, ob sie verliebt sind, bisexuell sind oder homosexuell. Diese Freiheit ist notwendig, damit eine Kultur wachsen kann. Das hat mir gefehlt im Iran. Wir müssen lernen, private Gefühle und Erfahrungen auch in der Welt zu artikulieren.
Aber mein größtes Anliegen ist die Imagination. So wie Saul Bellow sagte: Ein Land, das seine Seele und seine Liebe zur Dichtung verloren hat, ist ein todgeweihtes Land. Ich glaube, darin besteht eine Gefahr für den Westen, wenn hier nicht mehr Wert gelegt wird auf das Denken, auf Reflexion und Phantasie.
Wahlster: Den Zustand nach Ihrer Rückkehr nach Teheran, damals 1979, den beschreiben Sie so: Was fehlte war realer als das, was war. Wenn man das, was fehlt, nie erlebt hat, worauf zielen dann die Wünsche und Sehnsüchte?
Azar Nafisi: Von meinen Studenten, meinen eigenen Kindern und Kindern von Freunden hörte ich oft: Du hattest wenigstens ein Leben und wir nicht. Deshalb glaube ich, sind Geschichte und Fiktion so wichtig. Denn damit hat man eine Vergangenheit und die der Eltern und Großeltern. Was denen fehlte, wussten sie bereits. Diese Leben existierten auch als Vorstellung. Zudem kann man heute den Kontakt mit der Welt nicht mehr vermeiden. Man darf nicht unterschätzen, dass alles, was man entbehren muss, ungeheuer dringlich und wichtig wird. Als ich vor der Revolution im Westen war, habe ich nie Lippenstift benutzt. Als Lippenstift verboten war, wurde er extrem wichtig in meinem Leben. Alles, was das iranische Regime ablehnt und verbietet, wird sehr real im Leben der Menschen. Weil man dann darüber nachdenkt. Genauso geht es mit den Rechten des Individuums. Heute denkt man im Iran darüber so intensiv nach wie wohl noch nie zuvor.
Wahlster: Was genau haben Sie vor mit Ihrem Dialogprojekt, an dem Sie nun schon eine Weile arbeiten?
Azar Nafisi: Das hat sehr klein angefangen als ein Austauschprogramm, um eine alternative Sicht auf den Iran zu fördern. Wir luden einen jungen Filmemacher ein, einen jungen Lyriker und einen Musiker in die USA ein. Dann entwickelte sich daraus ein größeres Dialogprogramm zwischen der westlichen und der sogenannten muslimischen Welt.
Jetzt habe ich etwas anderes vor. Ich will keine Debatten mehr über die westliche Welt und die muslimische Welt, sondern eine Auseinandersetzung über die zentrale Bedeutung der Vorstellungskraft für die Geisteswissenschaften. In totalitären Gesellschaften wie dem ehemaligen Ostblock oder Iran heute stehen der Tod und Grausamkeit im Vordergrund. Aber es gibt auch ein grundsätzliches Problem mit dem Westen, sein schlafendes Bewusstsein, wie Saul Bellow sagt. Die Verkümmerung der Gefühle hält er für die große Gefahr im Westen. Gefühle und Empfindungen lassen sich nur durch Phantasie und durch Denken wecken. Dazu möchte ich einen internationalen Austausch, Treffen in einer Republik der Imagination - hoffentlich auch hier mit Freunden in Deutschland.
Wahlster: Wie sieht das aus im Iran nach Ihren Erfahrungen? Heißt das, jedes Gespräch über eigenes, über Dinge, die einen betreffen, finden dann nur im Verborgenen statt, im geschützten privaten Raum, so wie Ihr Lesekreis mit den sieben Studentinnen?
Azar Nafisi: Im Iran geschieht alles, was das eigene, private Selbst betrifft, im Untergrund. Das gilt auch für die Artikulation des privaten Ich zum Beispiel im Kino, im Theater, in Fiktion oder Poesie. Um zu tanzen, müssen wir die Fenster schließen. Wenn ich aussehen will, wie mir das gefällt, dann kann ich nicht nach Draußen gehen, dann muss ich nach Innen. Deswegen sind private Räume so wichtig geworden, weil wir dort die Verhältnisse unterlaufen und uns so verhalten können, wie es uns das Gesetz nicht erlaubt. Wahrscheinlich ganz ähnlich wie früher in Osteuropa. Vaclav Havel spricht von der Macht der Ohnmächtigen, von der Macht des Jazz und der Rockmusik. Mich erinnert das an den Iran.
Wahlster: Heißt das, Sie geben dieser Macht der Ohnmächtigen tatsächlich auch die Chance, etwas zu bewirken?
Azar Nafisi: Auf jeden Fall. Ich glaube nicht einfach nur an politische Veränderung. Veränderung muss mehr sein, eher existentiell: es geht um das Recht des Individuums, seine Potentiale voll auszuschöpfen - in jedweder Art (natürlich ohne damit anderen Schaden zuzufügen). Nabokov sagt, Regierungen kommen und gehen und nur die Spur des Geistes bleibt. Politische Systeme ändern sich. Aber wir müssen auch unsere Mentalität, unsere Haltungen ändern. Das geht nur durch Reflexion, Nachdenken, Vorstellungskraft und Austausch mit anderen.
Wahlster: Aber es gibt entscheidende Mauern, Ihr Weggang aus Teheran zum Beispiel, also ihre Emigration in die USA hat bei den jungen Frauen, die Sie unterrichtet haben, denen Sie den Freiraum geboten haben, Wut, Trauer ausgelöst, Groll, Verstörung. Was ist mit denjenigen, die unter den Verhältnissen leiden? Findet für die das Leben anderswo statt, sind sie permanent im Wartestand?
Azar Nafisi: Zum Teil ja. Manche empfinden es so, als würde sich das Leben draußen in der Welt ohne sie abspielen. Aber das Spannende an einem Land wie Iran ist, wie die Menschen die Welt hereinholen, indem sich junge Leute zum Beispiel für Hannah Arendt und Karl Popper interessieren, trotz der Dinge, die ihnen in den Schulen und an der Universität beigebracht werden. Sie unterlaufen das. Das geht sogar so weit, dass viele in den Behörden, die einst strenggläubige Revolutionäre waren, Dissidenten wurden, sich mittlerweile geändert haben und Dinge von Außen ins Land bringen.
Wahlster: Für diejenigen, die keinen Zugang haben zu Karl Popper, zu Philosophie, zur Literatur auch des Westens, wie Ihre Studentinnen z.B., wo oder wie können die sich mit inneren Welten beschäftigen, mit Verhältnissen, die sie berühren, die ihnen fremd sind, etwas abverlangen, sie zu eigenständigen Menschen machen?
Azar Nafisi: Natürlich sollte man nicht generalisieren. Meine Situation ist anders als die der Menschen, die im Iran leben. Aber was wir wahrscheinlich doch der islamischen Revolution verdanken, ist dass die Infragestellung von Demokratie, Menschen- und Frauenrechten genau diese Themen so ungeheuer wichtig hat werden lassen. Das sind keine Fragen der Elite mehr wie vor der Revolution, sondern in normalen Haushalten. An die Islamische Revolution glaubten zu Anfang viele traditionelle Frauen - später waren genau sie es, die begriffen haben, wie schlecht sie durch die neuen Gesetze gestellt wurden. Weil sie mehrere Frauen neben sich dulden müssen, weil sie sich nicht gegen schlagende Ehemänner wehren können.
Die Revolution hat dazu geführt, dass sich die Menschen im Iran als Fragezeichen verstehen. Und dann kommt verbotene westliche Kultur natürlich über Satelliten herein. In ärmeren Gegenden werden sogar Tickets verkauft. Baywatch und Soap-Operas gehören zu den beliebtesten Programmen. Baywatch kommt in den Iran gemeinsam mit Heinrich Böll und Hannah Arendt. (Lachen)
Wahlster: Einerseits stellen die Iraner sozusagen das große Fragezeichen an die islamische Revolution, an ihre Gegenwart. Aber es gibt ja auch von außen ein großes Fragezeichen gegenüber dem Iran. Wie erleben Sie das? Wie berechtigt erscheinen Ihnen diese Vorwürfe, die es da gibt?
Azar Nafisi: Wir müssen uns gegen die Homogenisierung der Menschen wehren, wenn kein Unterschied gemacht wird zwischen der iranischen Regierung und den Menschen in Iran. Das sind immerhin 70 Millionen, viele, mit denen ich ganz und gar nicht einer Meinung bin, aber ich bin für mehr Differenzierung im Westen. Wir dürfen nicht vergessen, dass es der Islamischen Republik auch nach 30 Jahren nicht gelungen ist, den Schleier so durchzusetzen, wie sie sich das ursprünglich vorgestellt hatte. Nicht die Frauen haben gegenüber dem Regime nachgegeben, es ist umgekehrt. Es gibt keine bewaffneten Moraljäger mehr in den Straßen. Und sie haben es auch immer noch nicht geschafft, Männer und Frauen davon abzuhalten, verbotene Literatur zu lesen oder nur auf bestimmte Art zu schreiben. Das sollte man hier verstehen und nicht nur vom guten Herrn Chatami und vom bösen Herrn Ahmadineschad sprechen. Man muss die gesamte Gesellschaft in Betracht ziehen.
Wahlster: Was finden Sie in iranischer Literatur heute? Welche Themen werden da wie verhandelt, weil vorhin haben Sie gesagt, es ist so schwer, überhaupt über innere, private Dinge zu sprechen.
Azar Nafisi: Vieles ist zensiert worden zu Beginn der Islamischen Republik. Auch sehr populäre Literatur. Die Literatur wurde dann sehr schnell sehr ideologisch und sehr politisch. Heute ist das ganz anders. Da geht es ums Private, nicht um Begriffe und große Ideen. Individuen, ihre eigene Stimme und individuelle Beziehungen stehen im Vordergrund. Das geht gerade erst los, aber wenn sich das entwickelt, werden wir wunderbare Sachen sehen.
Wahlster: Sie können vergleichen: Sie unterrichten jetzt in den USA, haben mit Ihrem Buch "Lolita lesen in Teheran" eine sehr berührende Erfahrungsgeschichte niedergeschrieben, was Literatur bedeuten kann, wenn man offiziell bestimmte Dinge nicht wissen darf, nicht diskutieren soll. Welche Rolle spielt Literatur für die Studierenden in den USA? Sie brauchen sie nicht als Überlebensmittel, sie brauchen sie nicht als Denkvorlage oder Phantasiemotiv.
Azar Nafisi: Ist es nicht seltsam, dass ich in den USA einen ähnlichen Kampf führe. Selbstverständlich sind beide Länder nicht zu vergleichen, die USA sind eine Demokratie. Aber man geht dort doch eher davon aus, dass die Literatur und das Denken Nebensache sind. Wozu soll es gut sein, Fitzgerald zu lesen? Ich unterrichte unglaublich gerne und im Iran gibt es diesen Enthusiasmus der Studenten, Hunger nach Literatur. Das finden Sie in den USA nicht. Allerdings ist die Meinungsfreiheit dort eine wunderbare Sache. Sie haben keine Angst vor Autoritäten, sie können mich in Frage oder unsere Lektüre in Frage stellen. Sie brauchen keine Angst zu haben, was immer sie über sich sagen, ob sie verliebt sind, bisexuell sind oder homosexuell. Diese Freiheit ist notwendig, damit eine Kultur wachsen kann. Das hat mir gefehlt im Iran. Wir müssen lernen, private Gefühle und Erfahrungen auch in der Welt zu artikulieren.
Aber mein größtes Anliegen ist die Imagination. So wie Saul Bellow sagte: Ein Land, das seine Seele und seine Liebe zur Dichtung verloren hat, ist ein todgeweihtes Land. Ich glaube, darin besteht eine Gefahr für den Westen, wenn hier nicht mehr Wert gelegt wird auf das Denken, auf Reflexion und Phantasie.
Wahlster: Den Zustand nach Ihrer Rückkehr nach Teheran, damals 1979, den beschreiben Sie so: Was fehlte war realer als das, was war. Wenn man das, was fehlt, nie erlebt hat, worauf zielen dann die Wünsche und Sehnsüchte?
Azar Nafisi: Von meinen Studenten, meinen eigenen Kindern und Kindern von Freunden hörte ich oft: Du hattest wenigstens ein Leben und wir nicht. Deshalb glaube ich, sind Geschichte und Fiktion so wichtig. Denn damit hat man eine Vergangenheit und die der Eltern und Großeltern. Was denen fehlte, wussten sie bereits. Diese Leben existierten auch als Vorstellung. Zudem kann man heute den Kontakt mit der Welt nicht mehr vermeiden. Man darf nicht unterschätzen, dass alles, was man entbehren muss, ungeheuer dringlich und wichtig wird. Als ich vor der Revolution im Westen war, habe ich nie Lippenstift benutzt. Als Lippenstift verboten war, wurde er extrem wichtig in meinem Leben. Alles, was das iranische Regime ablehnt und verbietet, wird sehr real im Leben der Menschen. Weil man dann darüber nachdenkt. Genauso geht es mit den Rechten des Individuums. Heute denkt man im Iran darüber so intensiv nach wie wohl noch nie zuvor.
Wahlster: Was genau haben Sie vor mit Ihrem Dialogprojekt, an dem Sie nun schon eine Weile arbeiten?
Azar Nafisi: Das hat sehr klein angefangen als ein Austauschprogramm, um eine alternative Sicht auf den Iran zu fördern. Wir luden einen jungen Filmemacher ein, einen jungen Lyriker und einen Musiker in die USA ein. Dann entwickelte sich daraus ein größeres Dialogprogramm zwischen der westlichen und der sogenannten muslimischen Welt.
Jetzt habe ich etwas anderes vor. Ich will keine Debatten mehr über die westliche Welt und die muslimische Welt, sondern eine Auseinandersetzung über die zentrale Bedeutung der Vorstellungskraft für die Geisteswissenschaften. In totalitären Gesellschaften wie dem ehemaligen Ostblock oder Iran heute stehen der Tod und Grausamkeit im Vordergrund. Aber es gibt auch ein grundsätzliches Problem mit dem Westen, sein schlafendes Bewusstsein, wie Saul Bellow sagt. Die Verkümmerung der Gefühle hält er für die große Gefahr im Westen. Gefühle und Empfindungen lassen sich nur durch Phantasie und durch Denken wecken. Dazu möchte ich einen internationalen Austausch, Treffen in einer Republik der Imagination - hoffentlich auch hier mit Freunden in Deutschland.