Freiheit durch die Blume

Von Ian Johnson · 08.04.2011
China möchte die Anerkennung der Welt und weiß, dass erfolgreiche Länder kulturelle Institutionen besitzen, die interessante und kontroverse Ausstellungen machen. Doch dazu fehlt Peking leider der Mut, meint der Autor Ian Johnson.
2001 machte Chinas Führung eine Entdeckung. Sie hatten gerade die Zustimmung erhalten, die Olympischen Spiele 2008 auszurichten und träumten davon, nach 30 Jahren Wirtschaftswunder der Welt zu zeigen, dass sie auf der Weltbühne angekommen waren.

Der einzige Haken an der Sache war ihre Hauptstadt. Wie sie einem britischen Report entnehmen konnten, der gerade herausgekommen war, lag Beijing auf der Attraktivitätsskala auf einer Stufe mit Bangkok und Warschau. Die Stadt besaß ein paar Sehenswürdigkeiten, wie den alten Kaiserpalast, die Große Mauer und die Ming Gräber, aber das war es dann auch schon. Die Altstadt war abgerissen worden, es gab keine angenehmen Viertel, in denen man flanieren und sich amüsieren konnte. Am wichtigsten war jedoch, dass es keine bemerkenswerten Museen oder Kunstgalerien besaß. Es war eine Kulturwüste.

Funktionäre entschieden daraufhin, China brauche ein gewaltiges Museum von Spitzen-Qualität; das größte und beste der Welt. Sie verabschiedeten einen Zehnjahresplan, der vor einer Woche mit der Eröffnung des "Nationalmuseums" Früchte trug. Mit 200.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche ist es das größte Museum weltweit. Es kann sich dank der Bemühungen der international agierenden deutschen Architekturfirma Gerkan, Marg und Partner mit einer hochmodernen Ausstattung schmücken.

Aber, wie eine Menge anderer Dinge in China, ist es fast eine Raubkopie. Von außen sieht es gut aus, sogar großartig. Bei näherer Betrachtung jedoch erweist es sich als unwirklich. Die Hardware ist vorhanden, an der Software fehlt es jedoch. Das neue Museum hat endlose Galerien fast ohne Inhalt. Es besitzt eine Million Objekte – Kulturschätze, die Regionalmuseen per Dekret gezwungen wurden dem Nationalmuseum zu "spenden", ohne Vorstellung darüber, wie man sie in einer interessanten und sinnvollen Weise ausstellt.

Der Kern des Museums besteht aus zwei Ausstellungen zur chinesischen Geschichte. Dies sind jedoch Propaganda-Shows, die die Regierungslinie in jeder möglichen Form vertreten. Sie sind im Niveau vergleichbar mit einem Schulbuch chinesischer Fünftklässler, voll simpler Slogans, transformiert in eine Ausstellung. Mit anderen Worten, banal.

Deutsches Know-How sollte auch dies ändern, zusätzlich zur architektonischen Hilfestellung haben sich deshalb Kuratoren aus den staatlichen Museen Berlin, Dresden und München zusammengetan und eine grandiose Ausstellung über die Aufklärung zusammengestellt. Der Gedanke war, das neue Museum mit einer innovativen Ausstellung zu eröffnen. Eine Ausstellung über eine Ära, die uns universelle Menschenrechte brachte, etwas, das man normalerweise in China nicht zu sehen bekommt. Wie ein deutscher Kurator es mir gegenüber ausdrückte: "Wir bringen die Aufklärung zum Platz des himmlischen Friedens" – den großen Platz mitten in Beijing, auf dem der Studentenprotest vor 22 Jahren blutig niedergeschlagen wurde - "Ist das nicht unglaublich?"

Unglaublich ist hier nur die Haltung der deutschen Museumsleute, denn die Grundideen der Aufklärung können nicht diskutiert werden – sie werden allenfalls durch die Blume angesprochen: ein Schreibtisch mit verschließbarem Deckel zeigt den Aufstieg des Schreibens von persönlichen Briefen und den Schutz der Intimsphäre. Oder Gottlieb Schicks "Henriette Dannecker", das Bild einer jungen Frau in einer Landschaft, ohne Symbole der Herrschaft wie Kirche oder König. Es handelt sich um ein Individuum, selbstbewusst und nachdenklich. In der Lage auf eigenen Beinen zu stehen.

Dies sind gute Ideen, die jedoch kaum in der Ausstellung erklärt werden. Die Besucher sollen stattdessen die Ausstellung als eine Ansammlung von "Schätzen" betrachten. Genau wie ihre eigene permanente Ausstellung eine Zurschaustellung von "Kulturschätzen", ist die deutsche Ausstellung eher nach "Gutsherrenart". Sie hat keine aufklärerische Wirkung, sie zeigt "Meisterstücke", die das Auge blenden sollen.

Das widerspiegelt das Problem des Museums und das von China allgemein. Die letzten drei Dekaden des ökonomischen Erfolgs haben das Land reich gemacht. Es besitzt eine Menge Geld und hat kein Problem damit, es auszugeben. Aber das Land weiß nicht, was es mit seinen neuen Errungenschaften anfangen soll. Es möchte die Anerkennung der Welt und weiß, dass große erfolgreiche Länder große kulturelle Institutionen besitzen, die interessante und kontroverse Kunstausstellungen machen, aber es besitzt nicht den Mut, dies tatsächlich zu tun.

In diesem Sinne sind sowohl das Museum als auch die von den Deutschen kuratierte Ausstellung symptomatisch für die wachsende Unterdrückung und Verhaftung von Dissidenten, Intellektuellen und Künstlern, die gerade stattfindet. Sie sind ein Symbol für ein Land, dem es an Selbstvertrauen mangelt.


Der kanadisch-amerikanischer Autor und Journalist Ian Johnson teilt seine Zeit zwischen Peking und seiner Wahlheimat Berlin. Er hat unter anderem Sinologie in China und Berlin studiert. Der Pulitzer-Preisträger ist Experte für Fragen der Zivilgesellschaft und Religion sowie der Vorgeschichte und der Hintergründe des Terrorismus von 9/11. Er schreibt für die "New York Times", "New York Review of Books" und arbeitet an einem neuen Buch über chinesische Identität und geistliches Leben. In Deutschland ist gerade sein Buch "Die vierte Moschee" erschienen.