Freier Wille oder bloßer Hirnimpuls?

Von Kim Kindermann · 23.11.2005
Unserer Entscheidungen sind schon festgelegt, bevor wir sie treffen. Das zumindest behaupten Hirnforscher. Sie sagen: Der freie Wille des Menschen ist eine Illusion. Damit wurde eine hitzige Debatte ausgelöst, die viele Jahre zurückreicht.
Es ist schon erstaunlich. Auslöser für den Streit, ob der menschliche Wille ein entschlüsselbares Zusammenspiel neuronaler Prozesse ist oder nicht, ist ein einziges, 27Jahre altes Experiment. Es stammt von Benjamin Libet, seines Zeichens amerikanischer Neurophysiologen und untersucht die Frage: Geht der bewusste Wille der Aktion des Gehirns voraus, oder folgt er ihr nach?

Um das herauszufinden, setzte Libet 1978 seine Versuchpersonen vor eine Scheibe, die einem Uhrziffernblatt ähnlich durch Striche unterteilt war und die anstelle eines Zeigers von einem roten Lichtstrahl umrundet wurde. Während die Versuchsteilnehmer, deren Gehirnströme mittels Elektroden an der Kopfhaut gemessen wurden, nun also auf die Scheibe schauten, sollten sie einen freien Willenakt ausführen. Das heißt, sie sollten die Hand heben, den Arm beugen oder einen Finger bewegen. Ganz wichtig dabei: Sobald sie diesen Bewegungsimpuls spürten, sollten sie sich die Position des roten Lichtstrahls auf der Scheibe merken und später darüber berichten.

Libet verglich anschließend die Messergebnisse der Gehirnströme mit den Aussagen der Versuchsteilnehmer und kam zu einem überraschenden Ergebnis: Die Hirnströme verstärkten sich nämlich bereits 350 Millisekunden, bevor sich der Versuchsteilnehmer seines Willens, etwa den Finger zu bewegen, überhaupt bewusst wurde. Das war revolutionär. Widersprach es doch allen Erwartungen.

Ohne es explizit zu wollen, eröffnete Libet damit der Diskussion um den freien Willen Tür und Tor, die einen vorläufigen Höhepunkt 2004 im "Manifest über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung" fand: Darin sprechen sich führende Neurobiologen dafür aus, dass der freie Wille eine Illusion ist. In ihren Augen ist das menschliche Handeln und Denken immer mit dem Ablauf neuronaler Prozesse im Gehirn zu erklären. Eine Aussage, die natürlich sofort heftigen Widerstand auslöste.

Der freie Wille - so die Kritiker, zu denen u. a. Jürgen Habermas gehört - ist die Grundlage allen Handelns. Ohne ihn würde der Mensch einer Maschine gleich nur auf Impulse des Gehirns reagieren. Freiheit im Handeln und Verantwortung für das eigene Tun wären damit bedeutungslos. Sprich: Es gäbe weder Gut noch Böse, weder Schuld noch Einsicht.

Und jedes Verbrechen ließe sich damit erklären, dass man nicht anders gekonnt hätte, sondern einem Roboter ähnlich dem neuronalen Impuls gefolgt wäre. Der Mensch wäre dann nichts anders als eine Marionette, deren Entscheidungen im schlimmsten Fall durch den operativen oder medikamentösen Eingriff von außen gelenkt werden könnte.

Und das kann und darf nicht sein. Zumal Libet's Experiment - in den Augen der Kritiker - keine Aussage darüber mache, wie langfristig gedachte Entscheidungen entstehen. Spätestens dann muss der Mensch in der Lage sein, mehrere Handlungsabläufe parallel zu entwerfen, sie gegeneinander abzuwägen und sie gegebenenfalls zu korrigieren, bevor er sich endgültig für einen entscheidet.
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