Frei von Schwarz-Weiß-Malerei

Es ist das schonungslose Werk eines Zeitzeugen, das Emir Suljagic mit "Srebrenica - Notizen aus der Hölle" liefert. Der Politologe und Journalist flüchtete 1992 in die muslimische Enklave in Bosnien und beschreibt den traurigen Alltag in der belagerten Kleinstadt. Tragischer Schlusspunkt des Buches: die inzwischen als Völkermord eingestufte Ermordung Tausender Muslime.
Plötzlich hält ein Lastwagen mit offenem Anhänger auf dem Marktplatz von Srebrenica. Vier Soldaten springen heraus und machen mit gezückter Pistole Jagd auf alle erwachsenen Männer, die zufällig in der Nähe herumstehen. Wer sich widersetzt, wird mit Schlägen traktiert. Innerhalb von zehn Minuten ist der Anhänger voll gepfercht mit verängstigten Menschen. Der Lastwagen verschwindet wieder in die Richtung, aus der er gekommen war. Er transportiert muslimische Kämpfer an die Front im Krieg mit der Armee der bosnischen Serben.

In den Kriegsjahren von 1992 bis 1995 bildete die ostbosnische Kleinstadt Srebrenica zusammen mit den umliegenden Dörfern eine muslimische Enklave in dem ansonsten von Serben beherrschten Landesteil. Der 1975 geborene Politologe und Journalist Emir Suljagic hat das Leben im belagerten Srebrenica beschrieben. Sein Buch, 2005 in Sarajevo im Original auf Bosnisch publiziert, ist jetzt auf Deutsch unter dem Titel "Srebrenica - Notizen aus der Hölle" bei Zsolnay erschienen.

Suljagic kam im Mai 1992 auf der Flucht vor dem serbisch-jugoslawischen Militär aus der Nachbargemeinde Bratunac nach Srebrenica und blieb dort bis zur Eroberung der Enklave durch den bis heute als Kriegsverbrecher gesuchten serbischen General Ratko Mladic im Juli 1995. Die von Mladic verfügte Ermordung von mindestens 7000 muslimischen männlichen Zivilisten, die sich in Srebrenica aufhielten, ist inzwischen gründlich erforscht und vom Haager Tribunal als Völkermord eingestuft worden. Im Buch bildet dieser erste Genozid nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa den Schlusspunkt einer tragischen Entwicklung.

Der Alltag im belagerten Srebrenica gleicht in den Augen des Autors von Anfang an einem großen Straflager, von außen in Schach gehalten durch die serbische Armee, im Inneren beherrscht von Warlords und Schwarzhändlern, zu denen sich zahlreiche Vertreter der anwesenden internationalen Schutztruppe als Kumpanen gesellen. Trotz ausreichender Versorgung mit Hilfsgütern leiden die meisten Menschen an Hunger und Kälte.

Suljagic analysiert die dafür verantwortliche Mafia-Struktur innerhalb der Enklave. Er schildert den traurigen Alltag der Einwohner, aber auch ihre seltene Freude, wenn es etwa 1994 gelingt, für die kurze Zeit der Fußballweltmeisterschaft auf allen erdenklichen Wegen Strom für die Fernsehgeräte zu erzeugen. Zugleich erfährt man von brutalen Überfällen muslimischer Soldaten auf wehrlose serbische Bauern und registriert beim Autor eine Mischung von Abscheu und Verständnis für die Taten des in Den Haag angeklagten muslimischen Militärkommandanten Naser Orić.

Suljagic, der als Dolmetscher für die UNO-Schutztruppe arbeitete und wahrscheinlich deshalb überleben konnte, zeigt das Leben in Srebrenica schonungslos und frei von jeder Schwarz-Weiß-Malerei. Ein Buch fern von Klischees, voller Empathie, aber ohne Parteilichkeit - unbedingt zu empfehlen.

Rezensiert von Martin Sander

Emir Suljagic: Srebrenica – Notizen aus der Hölle
Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber
Paul Zsolnay Verlag
238 Seiten, 17,90 Euro