Frei: Früheres Bekenntnis von Grass hätte mehr bewirken können

14.08.2006
Das Geständnis von Günter Grass, als junger Mann der Waffen-SS angehört zu haben, ändert nach Meinung des Historikers Norbert Frei nichts an seiner Bedeutung als Kritiker der unaufgeklärten Vergangenheit in Deutschland. Der Historiker an der Friedrich-Schiller-Universität Jena sagte wörtlich: "Wir erleben jetzt etwas, was mit dem komplizierten Prozess der Verwandlung von deutschen Volksgenossen der NS-Zeit und mehr oder weniger überzeugten Nationalsozialisten in die demokratische Bevölkerung der Bundesrepublik zu tun hat. Das geht nicht ohne Umerfindungsprozesse und Selbstverwandlungsprozesse."
Jürgen König: Herr Professor Frei, das sind brachiale Verurteilungen, die da geäußert wurden. Was halten Sie davon?

Norbert Frei: Na ja, einer, der sich in dieser Weise auch als ein großer Deuter, als ein Praeceptor Germaniae, wie gesagt worden ist, versteht, Günter Grass, der muss jetzt natürlich auch einstecken. Aber ich finde, da ist natürlich auch vieles, was gewissermaßen an Wut und Enttäuschung sich jetzt hier Luft macht. Dabei hätte man natürlich bei genauerem Nachdenken über das, was er von sich eigentlich immer schon gesagt hat, nämlich dass er ein glühender kleiner Nazi gewesen ist, und das ist ja auch vor dem Hintergrund seiner Sozialisation oder, anders gesagt, seines Elternhauses, so wie er ihn darstellt, diesen Hintergrund, durchaus nachvollziehbar. Das alles war ja bekannt, und man hätte immer schon fragen können natürlich, was bedeutet das eigentlich, wenn jemand mit 16, 17 Jahren das Kriegsende erlebt und von sich sagt, er sei eben auch ideologisch, fanatisch und überzeugt gewesen.

König: Wie schwer wiegt für Sie sein Geständnis, als Siebzehnjähriger der Waffen-SS angehört zu haben?

Frei: Ja, das ist zunächst erstmal eine Sache, die er mit ganz vielen seiner Jahrgänge und seiner Generation teilt. Also die Waffen-SS des Jahres 1944 war ja keine Eliteformation mehr, sondern ein Haufen, der versucht hat, von überall her, gerade weil hier besonders rabiat und besonders fanatisch gekämpft worden ist, Nachschub zu bekommen. Und da war man nicht mehr wählerisch, und da wurden eben die ganz jungen Leute in den Krieg hineingezogen. Also insofern ist das zunächst erstmal, und nach seiner eigenen Darstellung waren es wenige Wochen, zwei Monate vielleicht, in denen überhaupt noch an Kampfhandlungen teilgenommen hat, das ist keine große Sache.

König: Im Interview mit der FAZ sagte Grass, er habe 1944 der Enge seiner Familie entkommen wollen: "Wir waren im Arbeitsdienst, und auf einmal, ein Jahr später, lag der Einberufungsbefehl auf dem Tisch, und dann stellte ich vielleicht erst in Dresden fest, es ist die Waffen-SS." Ist das eine für den Historiker Norbert Frei vollziehbare Darstellung?

Frei: Sie sehen ja schon, er schreibt selbst, vielleicht stellte ich erst in Dresden fest. Er erinnert sich offensichtlich nicht ganz genau, nicht sehr präzise. Er spricht, glaube ich, auch von einem Filmriss oder von der Art und Weise, wie undeutlich diese gesamte Zeit für ihn ist. Das ist auch durchaus nachvollziehbar. Man muss sich das vorstellen, für den geliebten Führer zu kämpfen als Sechzehn-, Siebzehnjähriger in diesen aufgewühlten Wochen und Monaten, in diesem, wie man damals sagte, Endkampf um und für Deutschland, dass dies alles nicht besonders präzise in der Erinnerung ist, das mag schon sein.

Im Übrigen fällt es natürlich schwer, jetzt gewissermaßen in einer Ferndiagnose zu sagen: Ja, ja, also das ist ganz genau nachvollziehbar, und hier ist der Punkt erreicht, wo man das kaum glauben kann. Also zunächst erstmal würde ich jetzt seine Rekonstruktionsversuche, so wie er sie macht, für eine Möglichkeit halten. Und es ist natürlich auch nicht so, dass gegen Jahresende 1944 die Dinge alle nach bürokratischen, ordnungsgemäßen Normalverfahren abgelaufen sind.

König: Und zumal Grass immer noch ein bisschen Literatur schafft, indem er über sein Leben spricht.

Frei: Natürlich, das ist immer auch der Anspruch, das Ganze dann literarisch anspruchsvoll zu formulieren.

König: Norbert Frei, Sie haben sich in allen Ihren zentralen Studien mit der Vergangenheitsbewältigung der Deutschen beschäftigt. Sie haben den offenen, den offensiven Umgang des jungen Günter Grass mit seiner NS-Vergangenheit als aufklärerische Reaktion auf das, wie Sie schrieben, verstockte Schweigen der Älteren der NS-Funktionärsgeneration bewertet. Wie aufklärerisch ist jetzt dieses neue Geständnis, und ändert das etwas an Ihrer Bewertung?

Frei: Ja, dieses neue Geständnis ist natürlich deswegen schon nicht mehr besonders aufklärerisch, weil es eben wirklich sehr, sehr spät kommt. Ich würde aber trotzdem an dieser Funktion, die Günter Grass, und natürlich nicht nur er, sondern viele in seiner Generation, Martin Walser ist in diesem Zusammenhang auch zu erwähnen, andere Schriftsteller, Literaten, Publizisten, die eben sich in der Tat in den späten 50er, 60er, dann vor allem 70er Jahren immer wieder sehr kritisch gegen die unaufgeklärte Vergangenheit gewendet haben, die also das Projekt der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit tatsächlich entschlossen vorangetrieben haben, die immer wieder die Dinge auch skandalisiert haben, was Kontinuitäten angeht und so weiter ... Dies wird ja dadurch nicht falsch und es wird dadurch auch nicht in seiner Bedeutung relativiert. Man kann natürlich trotzdem der Auffassung sein, und das ist ja auch vielfach gesagt worden, es hätte Punkte in diesem langen, schwierigen Umgang mit der NS-Vergangenheit, in den Jahrzehnten der so genannten alten Bundesrepublik gegeben, wo ein solches Bekenntnis nun wirklich Eindruck gemacht hätte.

König: Zum Beispiel 1985.

Frei: Zum Beispiel 1985 im Zusammenhang mit der Bitburg-Debatte, im Zusammenhang mit dem Buch von Schönhuber "Ich war dabei", wo er eben über seine Waffen-SS-Zeit eben auch als sehr junger Mann gesprochen hat - nicht ganz so jung, wenn ich das richtig im Kopf habe, wie Günter Grass.

König: Was wäre passiert, wenn Günter Grass damals zu dieser Gelegenheit gesagt hätte, also Schönhuber schreibt dieses Waffen-SS-Traktat "Ich war dabei" und Grass kontert in einem Interview mit der FAZ zum Beispiel "Ich auch"?

Frei: Dann hätte er sagen können, ich auch, aber ich sehe trotzdem keinerlei Anlass, so wie es Herr Schönhuber jetzt tut, darüber den apologetischen Schleier des milden Lichts zu ziehen. Sondern wir müssen uns klar und hart der Tatsache stellen, dass die Waffen-SS eine Verbrecherbande gewesen ist und dass nicht jeder Einzelne vielleicht an Mord und Totschlag und gerade auch in der Schlussphase des Krieges beteiligt gewesen ist, dass aber dies eben doch die kämpfende Eliteformation des Nationalsozialismus hat sein sollen, auch wenn es zum Schluss eine Massenorganisation gewesen ist.

Also das sind alles Möglichkeiten gewesen, die er hätte einnehmen können, aber man muss dazu natürlich auch sagen oder sich fragen als Historiker, es ist ja dann auch interessant, gewissermaßen auf die Verhältnisse von vor 20, 30 Jahren zu gucken: Warum hat er es in dieser Situation nicht getan. Und dann fällt eben doch auf, dass auch in den 80er Jahren schwarz-weiß offensichtlich in dem deutschen Vergangenheitsdiskurs immer noch sehr viel wichtiger war als grau und grau und Nuancen, und dass insoweit wir jetzt auch etwas erleben, was zu tun hat mit diesem komplizierten Prozess der Verwandlung von deutschen Volksgenossen der NS-Zeit, von mehr oder weniger überzeugten Nationalsozialisten in die demokratische Bevölkerung der Bundesrepublik.

Das geht nicht ohne auch Umerfindungsprozesse und gewissermaßen Selbstverwandlungsprozesse, und vielleicht wird es an einem bestimmten Punkt, wenn ein sozusagen neuer demokratischer Mensch herangewachsen ist, auch in der eigenen Selbstwahrnehmung wirklich sehr, sehr schwer, dann noch zurückzugehen und zu sagen: Ja, das bin ich auch gewesen und sich gleichsam selbst zu glauben und selbst zu erklären, wie man eigentlich als 16-, 17-Jähriger so fanatisiert hat sein können, obwohl natürlich jedem klar ist, dass angesichts der Tatsache, dass etwa die Generation von Günter Grass also voll in diese HJ-Sozialisation hineingekommen ist: Wenn da kein Kontereffekt etwa im Elternhaus oder im kirchlichen Milieu gewesen ist, wo hätten die Widerstandskräfte herkommen sollen.

König: Verändert es unser Geschichtsbild, wenn jetzt der große Vergangenheitsbewältiger Grass beichtet, selbst bis heute gebraucht zu haben, um das Ausmaß seiner Verstrickung gestehen zu können?

Frei: Ich würde sagen, es fügt eine weitere Nuance der Differenzierung hinzu, und es macht auch die Schwierigkeit, aber auch die Dignität dieses Prozesses des Herausmendelns dieser deutschen Nachkriegsdemokratie aus dieser NS-Zeit ein Stück weit wieder plausibler.

König: Vielen Dank für das Gespräch.