Freeriden - Faszination und Gefahr des unberührten Schnees

Von Folkert Lenz · 31.12.2012
Freeriden ist das Skifahren im unverbrauchten Pulverschnee. Doch es drohen dann Lawinen, die immer wieder auch Skifahrern das Leben kosten.
Manfred Lorenz: "Guten Morgen, alle zusammen. Wir sind am Gipfel vom Weißhorn heroben jetzt. 2700 Meter hoch. Ausgezeichnetes Wetter, beste Fernsicht. Wir werden uns jetzt herrichten, also die Ski anziehen. Alles fertigmachen. Die Sicherheitsausrüstung checken. Und dann wollen wir ins Gelände gehen."

Einen schöneren Skitag kann es wohl kaum geben. Stahlblau der Himmel, weißbestäubte Berge bis zum Horizont. Postkarten-Winterwetter. Fast kitschig, das Ganze.

Doch das kleine Grüppchen neben der Bergstation der Weißhorn-Seilbahn wirkt unruhig. Kleine Pulks von anderen Skifahrern drängeln sich vorbei. Aber Bergführer Manfred Lorenz zieht gelassen den Reißverschluss seines Anoraks zu: des kalten Windes wegen. Erstmal ein Rundumblick:

"Wenn wir uns mal ein bisschen umdrehen: ein wunderbares Panorama! Die Silvretta da draußen: Die drei Zacken nebeneinander, das sind die Fluchthörner. Rechts daneben der Piz Linard, der höchste Gipfel in der Silvretta."

Die sechs Begleiter von Manfred Lorenz haben allerdings nur wenig Augen für das Panorama der Schweizer Bergwelt, hier, im Herzen von Graubünden. Am Rande der Skipiste spähen sie in die Ostflanke des Weißhorns hinein, verfolgen steile Felsrinnen, entdecken kleine Hügel, zeigen aufgeregt mit behandschuhten Fingern auf feine Schneekämme in der Tiefe.

"Einfach das Gefühl, wenn man da runter fährt, den Schnee spürt und so auf dem richtig so surft. Das macht einfach wahnsinnig viel Spaß."
– "Das ist einfach die Berührung mit den Bergen, so, wie sie sein sollte. Ohne Zivilisation. Tiefer Schnee. Das Herz fliegt bei uns Freeridern. Und wir wollen einfach die Natur genießen, ohne mit allen anderen in einem Pulk zu fahren."

Um "Freeriden", also das Skifahren jenseits der gewalzten Pisten, soll es in diesen Tagen gehen. Und welch ein Glück: glitzerndes weißes Pulver, frisch und knöcheltief. Am liebsten möchten sich die sechs Freerider sofort hineinstürzen. Doch Bergführer Manfred Lorenz tritt auf die Bremse. Von einem Ausnahmetag spricht der Lawinenprofi. Prüfend stochert er mit seinem Skistock im Schnee herum;

"10, 15 Zentimeter Neuschnee. Minus 7, minus 8 Grad von der Lufttemperatur her. Also, perfekte Schneebedingungen hier oben im Gelände. Leider Gottes müssen wir a bisserl aufpassen: Wir haben weiterhin Stufe 3 der Lawinengefahr."

Der erste schöne Tag nach Neuschneefällen gilt als brandheiß unter Experten. Heute ist so ein Tag. Weil überall tückische Schneebretter lauern, bewegt sich Manfred Lorenz mit seiner Gruppe äußerst vorsichtig außerhalb der gesicherten Pisten. Andere sind in diesen Tagen nicht so zurückhaltend.

"Davos. Vier deutsche Skitourenfahrer sind am Samstag bei einem Lawinenniedergang im Gebiet Gorigrad am Flüelapass verschüttet worden. Ein Mitglied der Gruppe konnte sich aus der Lawine befreien und den Rettungsdienst alarmieren. Drei konnten nur noch tot geborgen werden."

"Bern. Am Wochenende haben in der Schweiz zwei Lawinen vier Todesopfer gefordert. Drei deutsche Skitourenfahrer starben am Samstag in einer Lawine am Flüelapass. Ein junger Variantenskifahrer verlor am Sonntag in einer Lawine in Grindelwald sein Leben."


Die bittere Bilanz dieses Wochenendes: vier tote Schneesportler – allein in der Schweiz.

Zurück am Weißhorn: Das Siebenerteam mit Manfred Lorenz macht sich fertig für die erste Abfahrt. Unverzichtbar – nicht nur an einem solchen Tag: der Check der Notfallausrüstung. Jeder Skifahrer hat einen seifendosenähnlichen Apparat um seine Schultern gehängt: das Verschüttetensuchgerät. Es sendet Funksignale aus, damit sein Besitzer im Falle eines Lawinenabgangs möglichst schnell gefunden werden kann durch seine Kameraden und bevor er erstickt ist. Der Bergführer testet, ob seine Kunden den sogenannten "Pieps" am Morgen auch wirklich eingeschaltet haben.

Dann geht's endlich los. Endlich ins Gelände.

"Okay ... auf ... und runter geht's ..."

Die Freerider-Gruppe ist eine der ersten, die ihre Skispuren durch die frisch verschneiten Hänge des Weißhorns oberhalb von Arosa ziehen kann. Zwischen den Markierungspfählen der Pistenbegrenzung hindurch geht es in einen steilen Pulverhang hinein. Die ersten Schwünge sind zaghaft, die Wadenmuskeln müssen sich noch eingewöhnen. Dann kommt langsam der Rhythmus. Schließlich lockt ein großer, ebenmäßiger Hang, die Ski richtig laufen zu lassen. Der knietiefe Schnee staubt unter den Brettern hervor, immer schneller wird die Abfahrt. Lautes Juchzen, fast wie im Rausch: Atemlos kommen die Skifahrer unten an.

"Der hat die Steilheit gehabt und gerade den Schnee, den man für die Bretter nehmen kann. Und mit a bisserl Zug." – "Ich schnauf jetzt entsprechend, puh." - "Da geht das schon." – "Der Hang hat die perfekte Neigung gehabt, die perfekte Steilheit, und der Schnee war super." – "Ein bisschen mehr Powder, dann wäre das noch mehr ein Zauber. Aber, sagen wir mal, auf einer Skala von zehn, da liegt der schon bei sieben oben. Also, ein tolles Gefühl, wenn man fast wie auf Wasser getragen wird. Einfach unbeschreiblich schön."

Im Powder surfen, Schnee fressen, den Kitzel der Vertikale spüren. Doch manchen ist gar nicht bewusst, in welche Gefahr sie sich begeben. Im Winter 2009/2010 starben in den Alpen 164 Menschen den "weißen Tod" – so viele wie noch nie. Und fast immer waren es Wintersportler, die von Lawinen begraben wurden.

In der Ostflanke des Weißhorns oberhalb von Arosa zeigt Manfred Lorenz unterdessen seinen Kursteilnehmern, wie heikel die Lage an diesem Tag wirklich ist – allem Sonnenschein und der Winterromantik zum Trotz. Für den Profi des DAV Summit Clubs – das ist die Bergsteigerschule des Deutschen Alpenvereins – gehören Erlebnis und Lernen zusammen. Schrecksekunden sind dabei wohldosierter Programmbestandteil. So auch, als der Skiguide vorsichtig von oben in eine versteckte Schneemulde hinein rutscht.

"Eine typische Skifahrersituation, weil wir in den Mulden immer den perfekten Schnee finden. Das verleitet den Tiefschneefahrer, die Mulden zu bevorzugen. Dort hinein zu fahren. Und genau dort ist er dann im gefährlichen Bereich."

Sprichts und tritt den Beweis an. Ein scharfes Zischen hängt plötzlich in der Luft. Dann rauscht der Schnee in großen Schollen hinab in die kleine Geländeschüssel. Und obwohl das Grüppchen in respektvoller Entfernung stand: Es haben sich kleine Schlitze im Schnee aufgetan. Mitten zwischen den Skifahrern hindurch.


"Ja, jetzt sieht man hier Risse, die wirklich in die Schneedecke reingehen. Und man merkt: Wenn einer in den Hang reinfährt, dann bewegt sich einfach der Schnee auf dem Hang ein bisserl mit. Das ist schon beeindruckend. Da kriegt man schon Respekt davor."

Als typisches Skifahrerschneebrett bezeichnet Manfred Lorenz das Gesehene. Denn von selbst und ohne das Zutun des Sportlers wäre die Minilawine kaum abgegangen.
"In der Mitte der Mulde unten hat es 10, 15 Zentimeter Schnee. Heroben im Anbruchgebiet, wo man jetzt mehr oder weniger den Hang auch gestört hat – da sieht man auch noch die Risse - da ist die Schneemenge die Dreifache von diesen zehn Zentimetern. Das ist eben die Schneeverfrachtung, die angespannte Lage."

Ein harmloser Praxisbeweis, dass die Situation wirklich so brenzlig ist, wie vom Experten vorhergesagt. Genau diese heikle Lage hat allein an jenem Wochenende vier Skifahrer in der Schweiz das Leben gekostet.

"Es gab erstmal einen sehr, sehr lauten Knall. Also einen richtig lauten Knall. Und dann habe ich hoch geschaut. Und im ganzen Hangsystem waren überall Risse zu sehen. Und dann geht es auch schon in rasender Fahrt ins Tal. Also, das ist Wahnsinn, das geht so schnell."


Silke van der Piepen weiß, wie schnell es geht, wenn ein Schneebrett anbricht. Sie geriet in eine Lawine, als sie abseits der Skipisten unterwegs war. Und sie hat erfahren müssen, wie es sich anfühlt, zum Spielball der Schneemassen zu werden.

"Ich habe dann Schnee in den Mund bekommen. Dann kam ich kurze Zeit wieder ans Tageslicht und habe gehofft: Bitte, bleib jetzt stehen, bitte, bleib jetzt stehen, bitte nicht weiter. Aber dann gings sofort wieder runter – ab in die Dunkelheit."

Zwei Meter tief wurde die Skifahrerin schließlich verschüttet. Die Überlebenswahrscheinlichkeit dort unten ist minimal.

"Dann merkt man, wie die Lawine langsamer wird. Und ich habe versucht, die Hände nach vorne zu kriegen, um irgendwie einen Luftraum zu schaffen. Ich habe in dem Moment gedacht: Gott, ist es jetzt wirklich schon vorbei? Ich will eigentlich noch nicht sterben. Ich will weiter leben, ich bin noch so jung. Das war für mich in dem Moment so: Nee, ich möchte noch weiter leben!"

Silke van der Piepen hatte Glück im Unglück. Ihr Begleiter konnte sie noch rechtzeitig ausgraben. Weil er Verschüttetensuchgerät und Schaufel dabei hatte. Und mit beidem auch umgehen konnte.

Auch das kleine Dörfchen Engelberg in der Zentralschweiz hat sich unter Freeridern einen Namen gemacht. Die fünf Norwegerinnen, die Bergführer Sämi Speck für einen Tiefschneetag angeheuert haben, suchen vor allem eins: Powder. Check der Notfallausrüstung: gleich auf dem Engelberger Bahnhofsplatz, direkt an der Bushaltestelle.

"Okay, then everybody can come to me one by one... piiiep, piiiiep, piiiiiep..."

Mit Gondel und Sessellift geht es hinauf zum Jochstock. Von dort lässt sich die gigantische Engelberger Schneeschüssel am besten überblicken. Erst am Tag zuvor hat es ausgiebig geschneit. Doch in welche Richtung man auch schaut: Nicht ein Quadratmeter Schnee scheint unzerpflügt. Deswegen stapfen die fünf Blondinen in ihren dick wattierten, bunten Skioveralls wenig später den unberührten Jochgletscher bergan. An der Spitze des Trupps: Bergführer Sämi Speck. Steigfelle werden unter die Tourenski geklebt, damit die Bretter auch bergauf halten. Das ist ungewohnt für die Norwegerinnen. Immer wieder rutschen sie in der Spur zurück. Mühsam nur geht es Richtung Wendenlücke. Unterhalb des Joches ist aber noch unverspurter Pulverschnee zu sehen – das motiviert. Durchhalten heißt es für ein knappes Stündchen, dann ist das Ziel erreicht.

"Juhuuuuu - We are up now at Wendenlücke at about 2700 meters. Hey, schau mal, all die Berge um uns rum. Das ist doch verrückt. Großartig! Und trotz der harten Arbeit hier rauf: Das wars doch echt wert! – Solche Berge haben wir in Norwegen gar nicht. Das ist so beeindruckend. Auch das Wetter. Und ich bin schon so, so gespannt, wie es runter geht. Der Schnee sieht fantastisch aus."

Sämi Speck muss erst mal Dampf rausnehmen. Denn bei der Abfahrt lauern nicht nur Gletscherspalten. Auch die Lawinengefahr hat sich noch nicht völlig entspannt.

Wird der Tiefschnee rar, dann heißt das Stress für die Skiguides. Denn die Kunden sind auf Powder-Hänge aus. In manchen Gebieten zahlen sie sogar "Jungfern"-Prämien, wenn der Bergführer es schafft, ihre Gruppe als erste in eine unberührte Flanke zu bringen. Ein heikler Kick.

Speck: "Diesen Druck sollte man gar nicht aufbauen lassen als Bergführer. Jemand, der einen Bergführer bucht, der will einen sicheren Tag haben und nicht in eine gefährliche Situation kommen."

An der Wendenlücke bei Engelberg freuen sich mittlerweile die norwegischen Mädchen auf die Abfahrt. Frostig die Luft, doch wärmend die Sonnenstrahlen im Gesicht. Das Licht: weißlich und grell.

"Now we go down in the powder. Juhuuuuu."

Dunkle, graue Felsen treffen am Joch auf gleißend glitzernde Schneeflächen. Von oben scheint es, als ob eine Rampe aus Zuckerguss über den Gletscher ins Tal führt. Und bislang hat nur ein einziger Snowboarder eine s-förmige, geschwungene Linie in den gigantischen Abhang gezeichnet. Die Aufregung unter den Freeriderinnen steigt.

"Das ist wahnsinnig, da wieder runter zu fahren." – "Es ist das Wetter, es sind die Berge, es ist die Natur, einfach alles. Man fühlt sich frei. Und das alles in irre schöner Umgebung."

Speck: "Ja, die Abfahrt schaut gut aus. Wir werden aber mit großem Abstand fahren hier oben. Weil da auch ein bisschen Wind drin war. Es ist auch vom Fahrvergnügen her schöner, wenn wir mit großem Abstand fahren zwischen jeder Person. Dann kann jeder den Hang richtig genießen."

Bergführer Sämi Speck mahnt noch mal zur Vorsicht. Dann rutscht er langsam an die Kante vor – und abwärts geht's!
Lockerer Pulverschnee bis hinauf zur Wade. Ein paar Meter, dann nehmen die breiten XXL-Ski Tempo auf. Ganz weit schieben sich die Spitzen vor, scheinen in der Luft zu hängen, bevor sie wieder eintauchen in die riesige Staubwolke, die alles – so scheint's – verschlingen will.

"Wow, das ist toll. Ein ganz spezielles Gefühl. Fast, als wenn du im tiefen Schnee herumschwebst. Herrlich!"

1000 Meter tiefer wartet die Engstlenalp. 1000 Meter auf der Suche nach dem richtigen Rhythmus sind das – bis die Oberschenkelmuskeln brennen. 1000 Meter Sinnesrausch auf zwei Brettern.