Freche Blicke auf die Männlichkeit

"Großmama packt aus" - so hieß der letzte, erfolgreiche Roman Irene Disches. Auch im neuen Band "Lieben" mit 25 Erzählungen wird wieder "ausgepackt". Dieses Wort deutet das Verfahren der Autorin einfach am besten an. Es geht um frischen Lebensstoff; hier wird nicht feinziseliert von Bewusstseinszuständen im Hinterland des Alltags erzählt, hier werden Schicksale, frisch und saftig, auf zehn bis zwanzig temporeichen Seiten ausgebreitet.
Gerne erzählt Dische von lebenstüchtigen Frauen und nicht ganz so standfesten Männern; von Filous, Schmarotzern und Muttersöhnen; von pfauenhaften Ästheten, eingebildeten Kranken und allzu selbstbewussten Versagern. Solche "frechen" Blicke auf die Männlichkeit lassen sich die Leserinnen gefallen. Gelungen ist "Die Ballade vom schönen Frank", die den Abstieg eines Beaus genussvoll zelebriert. Das schlechte Ende, ein Mord, wirkt allerdings aufgesetzt.

Vorgeführt in seiner Eitelkeit wird auch ein Cambridge-Professor, der sich immer schon sehr bedeutend vorgekommen war und gewissermaßen seit Kindertagen einen inneren Biografen bei sich führte. Nun besucht er eine Jugendfreundin, um einen Stapel kompromittierender Liebesbriefe zurückzufordern. Zu seiner Überraschung entdeckt er in ihnen keine heißen Liebesschwüre, sondern gelehrte Abhandlungen über die Historie - verblichene Altklugheiten, weshalb die Freundin damals die meisten dieser Episteln gar nicht erst öffnete ("Heiße Luft").

Wenn es gut geht (und oft geht es gut), ist Irene Dische eine Meisterin der Short Story - jener zupackenden Art des Erzählens, die immer das effektvolle Finale im Blick hat, den letzten Satz, die Pointe. Von daher ist es eine konsequente Idee, das Buch mit 25 Geschichten einzuteilen in solche mit schlechten und solche mit guten Enden.

Disches Stil ist ungeduldig treibend (geborene New Yorker haben nie viel Zeit), gewitzt und etwas theatralisch, mit gelegentlicher Freude an makabren Pointen, die aber durch eine prinzipielle Freundlichkeit gegenüber dem vielgestaltigen Leben austariert werden. Ein Stil, der nicht mit geschliffenen Formulierungen aufwartet, aber mit der Frische gesprochener Sprache.

Zum Handwerkszeug der Autorin gehört auch eine Psychologie ohne Weitschweifigkeit. Sie will die Menschen in ihrem Innenfutter zeigen. Der Differenz von Außensicht und Innenleben gewinnt Dische dabei manche Pointe ab: Da ist die Frau, die nach dem Tod ihres Mannes untröstlich ist und zehn Kilo abnimmt:

"Aber die anderen sahen nur ihre neue Schlankheit, die hübschen Kleider, ihre Fröhlichkeit und regten sich auf."

Liebesgeschichten leben seit je von den Widerständen - unliebenswürdige Verhältnisse, Verbote und Tabus, Verwandte, die auf die Heiratskonvention pochen. Das alles gibt es in der permissiven Gesellschaft kaum noch. So ist auch der Liebesroman in die Krise geraten. Auf der Suche nach jenen Einengungen und Bedrückungen, die Passionen erst auf den Gipfel treiben und erzählenswert machen, verfällt Dische in einer ganzen Reihe der Geschichten auf Ehrenmorde, Brüderterror, Zwangsverheiratungen und andere islamische Spezialitäten. Die Ergebnisse sind wenig überzeugend. Das ganze ist ihr so fremd und unsympathisch wie unsereinem, was keine produktive Basis fürs Erzählen ist.

Das gilt vor allem für die Geschichte jenes Huseyns, der die Ehre seiner Tochter wiederherstellt, indem er ihren unliebsamen Geliebten tötet. Nach vollbrachter Tat ruft er die Polizei wegen einer vermeintlichen Autopanne an und glaubt damit ein sicheres Alibi zu haben. Dann berichtet er im Selbstgespräch stolz noch einmal den Tathergang. Nur hat er vergessen, das Handy auszuschalten, so dass die Polizei (die, o Wunder, auch nicht aufgelegt hat) das Geständnis frei Haus geliefert bekommt und Huseyn am Ende in Gewahrsam nehmen kann. Es mag ja sein, dass die entsprechende Wirklichkeit oft so plump und plakativ ist. Nur lassen sich Geschichten nicht mit dem Verweis retten, die Realität sei ja leider genauso dämlich.

Eingehend versucht sich Dische auch in die Innenwelt eines wohlstandsvernachlässigten Jugendlichen zu versetzen, der nur ein Lebensziel kennt: Rap-Star. Trotz reimstarker Kostproben kann auch diese Erzählung nicht überzeugen. Erfolgreicher parodiert die Autorin die Geisteshaltung einer amerikanischen Dekanin, die vor Idealismus und politischer Korrektheit glüht, aber leider von einem kurdischen Schüler berichten muss, der kein bisschen gewaltfrei und friedliebend ist, was die Grenzen ihres Weltbildes stark belastet.

Überzeugend sind vor allem die Geschichten der zweiten Hälfte; die mit den "guten Enden". Ein schlimmes Ende ist immer leicht zu haben, aber einer Geschichte, in der durchaus einige (für den Protagonisten) unerfreuliche Dinge passieren, eine kleine freundliche Auflösung zu geben - das ist eine Kunst, die den Leser verblüfft.

Jede Geschichte wartet mit anderen Lebenswelten auf, die Erzählerin ist in amerikanischen Vorstädten ebenso zuhause wie in sowjetrussischen Wohnsilos. Und es werden nicht nur Liebesgeschichten erzählt - wenn man zum Beispiel nicht auch die Zuneigung eines Jungen zu seinem Kaninchen unter diesem Begriff fassen will. Wie üblich bei Geschichtensammlungen ist nicht jedes Stück ist ein Meisterwerk. Aber der gute Eindruck überwiegt. "Lieben" ist ein Buch, das man gerne liest, kurzweilig bis zum Schluss.

Rezensiert von Wolfgang Schneider


Irene Dische: Lieben
Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser.
Hoffmann und Campe 2006.
320 S., 19,95