Frauenschicksale in Russland

09.10.2007
In den 17 Erzählungen des Bandes "Maschas Glück" erzählt die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja auf ihre intime Art Lebensgeschichten - meist von Frauen. In den besten Texten gelingen der Autorin die Zuspitzungen, die aus alltäglichen Situationen rätselhafte und schicksalsträchtige Momente machen.
Von Beginn an hatte Ljudmila Ulitzkaja die Zentren ihres Erzählens sehr klar vor Augen: Frauenschicksale, die sich abspielen vor dem Hintergrund einer russisch-sowjetischen Geschichte, die sie gleichsam in ihren "Niederungen" zeichnet. Dort, wo die große Politik als ein aus der Ferne herandrängendes Echo ankommt, aber doch anwesend ist - in den Fluren der Gemeinschaftswohnungen, an Familientischen, bei persönlichen Telefonaten und - auch das - unter Bettdecken.

Stets hat sie den intimen Radius ihrer Figuren vermessen, mit einem genauen Blick für die psychischen, emotionalen und sozialen Bedürftigkeiten, in denen diese Figuren stecken. Dieser Blick ist dabei immer ein hochkomplexer gewesen: Er enthält viel menschliche Wärme und ist doch voller Ironie, er offenbart einen scharfen Verstand für die Konstellationen, aber ebensoviel Verständnis für menschliche Schwächen und Launen.

In den hier versammelten 17 Erzählungen ist das kaum anders. Auf ihre intime Art erzählt die Autorin Lebensgeschichten - meist von Frauen, aber wo Frauen sind, darf man zu Recht auch Männer vermuten -, und sie umgreifen oft mehrere Generationen, so dass mindestens die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre Spuren in diesen Texten hinterlässt.

In den besten Erzählungen gelingen ihr die Zuspitzungen, die aus alltäglichen Situationen rätselhafte und schicksalsträchtige Momente machen: Eine Stromsperre in einem Wohnhaus bringt das gewöhnliche Leben durcheinander. Nichts wirklich Besonderes, und so erscheint es auch auf den ersten Blick. Irgendwie muss sich jeder der Nachbarn etwas umstellen in seiner Tagesplanung, aber all das ist nicht der Rede wert.

Nur in einer Familie vollzieht sich eine Tragödie: das mühsam und kompliziert, dabei perfekt organisierte Gefüge des Tagesablaufs, das von einer schwerstbehinderten Tochter bestimmt und vor allem von der Mutter getragen wird, stürzt in sich zusammen. Der Moment der Abweichung provoziert den kompletten Zusammenbruch eines am Rand der Überforderung aufrecht erhaltenen Flusses der Dinge. Die Frau nimmt sich das Leben, bevor ihre Familie vom Spaziergang nach Hause kommt.

Eine andere Erzählung beschreibt einen ebenfalls zugespitzten Moment, wenn auch ganz anderer Art. Ein noch junger Mann fühlt sich hingezogen zu seinem väterlichen Lehrer, der ihn immer näher heranführt an die Lehren Rudolf Steiners. Anthroposophische Lektüren und Gespräche - alles nicht sehr offiziell in der Sowjetunion - stellen eine Verbindung her, die immer enger wird, schließlich so eng, dass dem "Schüler" eine Begegnung mit einem "Eingeweihten" versprochen wird, einem Mann, der sogar an Steiners "Goetheanum" mitgebaut hat.

Am entscheidenden Tag wird der junge Mann in seine Wohngegend geführt, in seine Straße, schließlich zu seinem Haus. Am Ende geht es sogar zu seiner (Gemeinschafts-) Wohnung, und der "Eingeweihte" erweist sich als jener alte Nachbar, der durch seine physische Widerwärtigkeit, sein verdruckstes und heimlichtuerisches Benehmen, seine ganze Aura seit langer Zeit ein Alptraum dieses jungen Mannes ist. Der Moment ist für ihn nicht auszuhalten - alle Geistigkeit kapituliert vor der Physis: er tauscht sofort sein Zimmer, und die Anthroposophie hat einen Anhänger weniger.

Die Mehrzahl der Erzählungen dieses Bandes erfüllt solche Kriterien nicht unbedingt. Milieuschilderungen, bewahrende Fixierungen eines bestimmten Moments, die Weite der Schicksalsmöglichkeiten eines Lebens scheinen als Gründe für viele der Erzählungen gegolten haben. Man muss das nicht geringachten.


Rezensiert von Gregor Ziolkowski


Ljudmila Ulitzkaja: Maschas Glück. Erzählungen
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt.
Carl Hanser Verlag, München 2007, 240 Seiten, 19,90 Euro