Eine freie Frau treibt nicht ab
Tausende von Frauen gehen für ihre Selbstbestimmung, etwa in Polen, auf die Straße. Radikale Konservative fürchteten, dass sie ohne staatliche oder kirchliche Kontrolle ihre Babys töten würden, sagt Gesine Palmer. Dabei würden wirklich freie Frauen anders entscheiden.
Das Recht einer Frau, selbst über ihren Körper zu entscheiden, löst bei vielen Konservativen nach wie vor Panik aus. Sie malen das Bild von hedonistischen Frauen an die Wand, die lieber Cabrio fahren als sich um Kinder zu kümmern. Manch selbsternannter "Lebensschützer" vermutet gar geheime Vereinigungen, in denen (ich zitiere) "das Tötungsdelikt Abtreibung … als Ritterschlag gesehen wird." Und der Papst sieht sich in einem "Weltkrieg gegen die Ehe."
Ist die Selbstbestimmung von Frauen also doch gefährlich? Ist eine Frau, die sich in einer biographischen Notlage gegen eine ungewollte Schwangerschaft entscheidet, eine Mörderin? Ist eine Frau, die eine Scheidung einreicht oder auch nur akzeptiert, eine Kriegsteilnehmerin im Endkampf um die Ehe als solche? Dass sie das wirklich denken, mag ich den konservativ Religiösen gar nicht glauben. Ich bin eine liberale Protestantin. Aber oft bin ich den Katholiken für ihre strengeren Bindungen an das Tötungsverbot sehr dankbar. Ihre Bedenken gegenüber der Sterbehilfe oder medizinischen Experimenten sind meine.
Die Herren wissen, warum sie Angst haben
Nur dass bei mir der Gedanke der Freiheit eine größere Rolle spielt. Bundespräsident Gauck unterscheidet in seinen Freiheitsreden zwischen der Freiheit von und der Freiheit zu etwas.
Für die Abtreibungsdebatte folgt daraus ein Plädoyer für die Freiheit zum Kind. Die "Internationale der Religiösen Reaktion" dagegen fürchtet die Freiheit der Frauen, als eine Freiheit von: ob in der christlichen, der jüdischen, muslimischen oder auch hinduistischen Variante, ihr Angstgegner ist die ungezähmte weibliche Sexualität. Frei von kirchlicher und staatlicher Kontrolle werden – so fürchten radikale Konservative in aller Welt – Frauen ihre Kinder töten, im Mutterleib oder außerhalb, sie werden ihren Männern nicht mehr dienen und nicht mehr alles tun, um die Familie zusammenzuhalten. Die Herren wissen, warum sie das fürchten: ihre eigenen Familien und Gesellschaften beruhen auf einer massiv ungerechten Ungleichstellung der Geschlechter.
Welcher "Weltkrieg gegen die Ehe"?
Freiheitliches Denken funktioniert anders herum. Der freien Frau geht es nicht um die Freiheit von Kindern oder das Ausweichen vor der mit dem Großziehen von Kindern verbundenen Verantwortung. Ihr geht es vielmehr um die Freiheit zum Leben mit Kindern. Freiheitliches Denken vertraut darauf, dass auch dem anderen sein Leben und seine Lieben lieb und wichtig sind. Die freie Gesellschaft braucht deswegen nicht so sehr das Erbarmen, das auch strikte Lebensschützer für Frauen in schwierigen Schwangerschaften kennen: diesem ist die Frau immer noch nur Objekt. Die offene Gesellschaft kämpft vielmehr gemeinsam mit jeder Frau um die Freiheit, unter den mit dem Aufbringen von Kindern verbundenen Lasten nicht zusammenzubrechen. Also verwendet sie auch weder das ungeborene noch das geborene Kind als Waffe im Weltkrieg um die Ehe.
Ein Kind austragen, es versorgen, es heranwachsen sehen, mit ihm in ständigem Gespräch zu sein, ist etwas wirklich Wunderbares. Warum sollte sich irgendeine freie Frau dagegen entscheiden? Aber oft sind die Verhältnisse nicht so. Frauen sind immer öfter wieder immer abhängiger. Eine Frau aber, deren Sexualität Gegenstand strenger sozialer Aufsicht ist, deren Gebärmutter als Ressource der Männer, der Familie oder religiöser Instanzen gilt, kann sich selbst nur als Objekt wahrnehmen. Welchen Grund sollte sie haben, in einem Menschen, der in ihrem Leib heran wächst, etwas anderes als ein Objekt zu sehen?
Erst eine Frau, die mit und ohne Kind mit und ohne Mann ihren Unterhalt erwerben und ihre Begabungen entwickeln kann, erst eine Frau, die nicht wegen ihres Geschlechts gegängelt wird, erst eine Frau, die ihr Begehren selbst mit Partnerin oder Partner ihrer Wahl kultivieren kann, ist eine freie Frau – und eine freie Frau treibt nicht ab.
Gesine Palmer, geb. 1960 in Schleswig-Holstein, studierte Pädagogik, evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin. Nach mehrjähriger wissenschaftlicher Lehr- und Forschungstätigkeit gründete die Religionsphilosophin 2007 das "Büro für besondere Texte" und arbeitet seither als Autorin, Redenschreiberin, Trauerrednerin und Beraterin. Ihr Thema sind "Religion, Psychologie und Ethik" – im Kleinklein der menschlichen Beziehungen wie im Großgroß der Politik.