Frauenbewegtes Lohland
1919 gründen Luise Langgaard und Hedwig von Rohden auf dem Herzberg nahe Fulda die "Loheland-Schule". Landbau und Handwerk werden hier unterrichtet, aber erst eine spezielle Gymnastik, die sogenannte "Loheland-Gymnastik", verbreitet den Ruf der Schule weit über den hessischen Raum hinaus.
Frauen in die Berufsausbildung, das ist das Ziel der ersten Stunde. Es entsteht eine Sielung, ein kleiner Amazonenstaat. Noch heute beherbergt das kleine Dorf mehrere Generationen von Loheländerinnen - von den Schülern eines Internats über Lehrer mit ihren Familien bis zu den alten Loheländerinnen, die die Tradition einer antibürgerlichen Lebensweise noch aus den Anfängen kennen.
Eine Schar junger Frauen - und ein einzelner junger Mann - singen sich warm.
Barfüßig und in ausgelassener Stimmung stehen sie im Saal des Giebelhauses: ein imposanter, rosafarbener Bau mit einem Sockel aus großen Bruchsteinen. Mit seinem weit nach vorne geneigtem, holzverkleidetem Giebel erinnert der mächtige Bau an ein Kreuzfahrtschiff. Die in halbrunden Holzbögen eingefassten Fenster verleihen ihm etwas Märchenhaftes.
Es ist Semesterende an der Gymnastik - Akademie – Loheland. Der Gesang dient als Lockerungsübung.
Im Laufe des Vormittags zieht die Gruppe der Studenten vom Giebelhaus in den Franziskusbau. In dem dunklen, höhlenartigen Gemäuer aus riesigen Natursteinen finden die Proben zur Semester-Abschluss - Arbeit statt.
Duster und fröstelig ist es an diesem Julimorgen, doch die jungen Loheländerinnen sind vertieft in ihre Choreografie. Die bunte Straßenkleidung ist reinweißen Gymnastikanzügen gewichen.
Sehr aufrecht und außergewöhnlich leise laufen sie in großen Ausfallschritten durch den Saal. Sie werfen dabei einen Stab gerade so hoch, dass er sich einmal drehen kann und dann wieder sicher in ihrer Hand landet. Es ist eine fließende Bewegung, wie aus einem Guss.
Dann stellen sich vier junge Frauen in die Mitte und halten sich mit einer Hand aneinander fest. An der jeweils anderen Hand bildet sich eine Kette von je drei Studentinnen. Dann beginnen sie sich wie ein Karussell zu drehen. Es entsteht eine menschliche Zentrifuge. Doch welchem Ziel dienen diese Übungen?
"Es wird geschult, wie der Mensch sich bewegen kann. Ganz menschlich und ganz einfach, so aber sinnvoll, dass er nicht Kräfte verbraucht unnötig, sondern dass er sich seines Menschseins bewusst wird. Dass die Bewegung auch ein Element sein kann, um den Menschen wirklich zu bilden, weiterzubilden."
Antje Harken, - eine burschikose 76-Jährige, mit kurzgeschnittenen, streng nach hinten gekämmten Haaren und sehr aufrechter Haltung, - ist Gymnastiklehrerin in Loheland. Bis heute gibt sie Gymnastikunterricht, sie lebt seit 1948 in Loheland. Da bestand der kleine Ort bereits seit fast 30 Jahren.
1919 gründeten Luise Langgaard und Hedwig von Rohden auf dem Herzberg nahe Fulda die "Loheland - Schule für Gymnastik, Landbau und Handwerk". Es war eine reine Frauensiedlung. Der völlig unerschlossene Berg wurde von den Loheländerinnen in ein idylisches Dorf verwandelt. Märchenhaft anmutende Häuser entstanden. Der Blick des Besuchers fällt als erstes auf das Steinhaus - ein rundes kleines Häuschen, in der Form eines spitzbehüteten Pilzes. Wie die meisten Gebäude hat auch dieses phantasievolle, kleine Häuschen Louise Langgaard selbst entworfen.
Laut Werbung aus dem Jahr 1920 sollte Loheland die "Schicksalsstätte für das kommende weibliche Geschlecht" werden.
Heute ist es die älteste anthroposophische Dorfsiedlung Deutschlands. Sie besteht ohne Unterbrechung seit fast 90 Jahren. Außerhalb Fuldas weiß jedoch kaum noch jemand etwas mit dem Namen Loheland anzufangen.
Die ehemalige Vorsitzende der Loheland Stiftung, Dr. Wedis Neindorf, eine drahtige 81-Jährige, beschreibt die Anfänge:
"Sie wollten anders sein, z.B. die Haare wurden abgeschnitten - der Zopf fiel. Das Korsett wurde abgeschafft, man ging barfuß, wenn es irgend ging. Was zum Teil den Spott der Bauern eingetragen hat. Das war damals in dem Aufbruch am Anfang des vorigen Jahrhunderts, wo man sich aus Zwängen befreien musste, vor allem als Frau."
Sie selbst kam bereits 1929, noch nicht ganz zwei Jahre alt, mit ihrer Mutter das erste Mal nach Loheland. Immer wieder kehrte sie in das kleine Dorf zurück, bis sie schließlich 1976 für immer blieb.
"Es geht aus ein Wahlspruch von Frau Langgaard: Bewegung ist ein Element des Lebens. Pflegen wir Bewegung, pflegen wir den ganzen Menschen. Bewegung ist ein Bildungselement. Es kommt hier nicht nur darauf an, körperlich beweglich zu sein, sondern auch seelisch und geistig beweglich zu sein."
Anfang des 20. Jahrhunderts schloss sich die bürgerliche Jugend in Bünden, wie dem Wandervogel oder der Jugendbewegung, zusammen. Die jungen Leute wollten zurück zu einem einfacheren, bodenständigeren Leben und gaben sich explizit antibürgerlich. Wandern und Bewegung spielten eine zentrale Rolle. Gemeinsames Siedeln war das hehre Ziel. Verwirklicht wurde es kaum. Loheland wurde zur gelebten Utopie. Ein kollektives Lebensmodell sollte ausprobiert werden.
"Die kamen entweder direkt aus der Jugendbewegung oder auch aus der Kunsterzieherbewegung, aus diesen Aufbrüchen Anfang des Jahrhunderts waren das die meisten Menschen."
Die Loheländerinnen der ersten Generation lebten noch bei den Bauern der Umgebung. Oft haben die Gymnastikschülerinnen neben ihrer Ausbildung auch bei den Bauern auf den Feldern gearbeitet, um ihre Miete zu bezahlen. Jeden Tag bewältigten sie lange Fußmärsche, um Loheland zu erreichen.
"Wir habe im Dorf gewohnt in einer kleinen Gemeinschaft und sind dann jeden Tag hier rauf gepilgert und haben dann unsere Stunden gehabt und sind dann wieder nach Hause gepilgert."
Anfangs bestand die Siedlung aus Zelten. Erst nach und nach entstanden auf dem kleinen Berg auch Wohnhäuser.
"Die Gymnastikschule bestand schon sieben Jahre vorher, aber an verschiedenen Orten. Aber dann hatte Frau Langgaard den Wunsch, Eigentum zu erwerben und einen Ort zu schaffen, wo man rundum auch die menschlichen Tätigkeiten haben kann. Deswegen war das Grundstück hier gerade recht, weil man hier den Boden bebauen konnte und Handwerk treiben konnte. Und all das, was die Menschen damals unmittelbar brauchten. Es war Inflationszeit, es gab nichts."
Die Grundlage der Gemeinschaft bildete die Anthroposophie Rudolf Steiners. Darauf aufbauend hatten Louise Langgaard und Hedwig von Rohden bereits in den Jahren vor der Gründung Lohelands eine eigene Form von Gymnastik entwickelt.
"Das ist eine Gymnastik, die ist speziell für Frauen hervorragend. Auf die weibliche Anatomie und den weiblichen Bewegungsdrang. Dieses ganze z.B. auch dieses Ballfangen, nicht wie ein Mann. Man fängt ihn und geht mit dem Ball noch ein Stück mit. Es ist also weicher irgendwie. Und sie orientiert sich irgendwie so an klassischen Vasenbildern. An diesen Bewegungen, die diese Griechinnen da drauf haben."
Christel Wehnert studierte Lohelandgymnastik bei Eva-Maria Deinhardt, die zur ersten Generation der Loheländerinnen gehörte.
Vor dem Zweiten Weltkrieg genoss Loheland einen Ruf weit über die Grenzen Fuldas hinaus. Vor allem die deutschlandweiten Tanzaufführungen mit Eva Maria Deinhardt und Berta Müller sorgten für Furore. Eine Tournee 1919 machte Loheland mit einem Schlag in ganz Deutschland bekannt.
Schon die Titel dieser Ausdruckstänze, "Rufen - Stimmen des Frühlings" oder "Strömung", passten gut in die Zeit der fiebrigen Aufbruchstimmung während der 20er Jahre. Die "Tänze aus Loheland" erregten große Aufmerksamkeit. Ein neues Bild von Weiblichkeit wurde den Zuschauern vermittelt. Eva-Maria Deinhardt und Berta Günther trugen futuristische Kostüme aus Papierschnüren und goldgleißendem Material. In Illustrierten wurden große Bildberichte über sie gedruckt. Überall wurden die herausragenden Tanzaufführungen gelobt.
Ein Brand im Jahr 1923 zerstörte sämtliche Kostüme. Louise Langgaard und Hedwig von Rohden nahmen dies zum Anlass, die Tanzdarbietungen zu beenden.
Die Gymnastik und die Gemeinschaft sollten wieder stärker in den Vordergrund gerückt werden.
"Gymnastik ist kein Ausdruckstanz. Und dies war Ausdruckstanz und zwar entsteht das, wenn Menschen sich in der Bewegung zu Hause fühlen, dann kriegen sie auch Lust, etwas zum Ausdruck zu bringen. Man hat ja gesehen, dass Louise Langgaard einen anderen Weitblick hatte. Da hat sie dann gesagt, jetzt ist Schluss damit. (...) Irgendwie passte es nicht mehr und das war wohl auch ganz gut so."
Nicht einzelne Personen sollten herausgehoben werden, sondern Loheland als Gemeinschaft war wichtig. Für Louise Langgaard stand das Überleben Lohelands an erster Stelle. Pragmatisch und weitsichtig verfolgte sie dieses Ziel. Die Loheländerinnen gründeten verschiedene Handwerksbetriebe, um die Gymnastikschule zu finanzieren. Das Kurioseste war mit Sicherheit die vegetarische Doggenzucht und der Verkauf der Tiere in die USA. Die tatsächlich fleischlos ernährten Tiere haben noch heute in den USA einen hervorragenden Ruf.
Dr. Neindorf erinnert sich:
"Wenn die nach Amerika verkauft wurden, das war ein Batzen Geld, der da zurück kam, für die damalige Zeit."
Eine der Doggen wurde vom damaligen New Yorker Bürgermeister gekauft. Im Internet schwärmen immer noch Doggenzüchter aus den USA von diesen stattlichen Tieren aus Loheland.
Aber besonders bemerkenswert sind Tischlerei, Weberei und Fotowerkstatt. Produkte aus Loheland galten in den 20er Jahren als Markenwaren. In einem Atemzug wurden sie mit Namen wie Villeroy und Boch oder Hutschenreuther genannt. Auf allen großen Messen in Leipzig und Frankfurt war die Marke Loheland vertreten. Loheland stand für modernes zeitgemäßes Design. In allen Betrieben entstanden Meisterwerke. Die in Loheland entworfenen Produkte spiegeln den Geist der 20er Jahre – klar und schnörkellos erinnern Tische, Stühle oder die gewebten Stoffe an die Ästhetik des Bauhauses. Die Handwerksbetriebe bildeten aber nicht nur das finanzielle Fundament. Im Sinne einer ganzheitlichen Ausbildung konnten die Gymnastikschülerinnen dort auch eine Berufsausbildung machen. Für junge Frauen aus bürgerlichen Haushalten keine Selbstverständlichkeit.
Der moderne Geist Lohelands spiegelt sich auch in der Fotografie. Von Anfang an haben die Loheländerinnen ihr Projekt mit der Kamera begleitet. Die Bilder zeigen die Loheländerinnen bei Volkstänzen, der Gymnastik oder bei der Arbeit in den Werkstätten. Auch die Doggen sind zu sehen. Bemerkenswert sind die Fotos der Ausdruckstänze. Sie sind ungewöhnlich dynamisch und lassen die Bewegung dahinter erahnen.
1926 wurde eigens die "Lichtbildwerkstatt Loheland" gegründet. Dr. Neindorf erinnert sich an die ungewöhnliche Unterbringung der Werkstatt, in der sogenannten Waggonia.
"Die Waggonia besteht aus im ganzen vier früheren vierten Klasse - Eisenbahnwagen. Die vierte Klasse war so, dass man nur an den Außenwänden Bänke hatte. Da war nicht so viel rauszureißen. Es ist von innen ausgebaut worden und man sieht von außen, dass die Fenster noch zum Teil so sind, wie sie bei den früheren Eisenbahnwagen waren."
In den heute von Studentinnen der Loheland Akademie bewohnten Waggons entstanden hochklassige Werbe- , Portrait- und Landschaftsaufnahmen. Die Loheländerinnen setzten die Fotografie ganz gezielt zur Vermarktung ihrer Produkte ein. Die Fotos wirken auch aus heutiger Sicht erstaunlich modern.
Besonders herausragend sind jedoch die Fotogramme der Loheländerin Berta Günther. Ohne Kamera experimentierte sie mit der direkten Belichtung des Fotopapiers. Die Arbeiten zeigen vor allem bizarre Blüten- und Blätterkompositionen. Diese aufsehenerregenden Bilder wurden in den 20er Jahren wie selbstverständlich neben die Fotogramme Man Rays gestellt.
"In Hamburg, Breslau, Dresden sind ganze Lohelandhäuser entstanden, wo dann auch die Erzeugnisse der Werkstätten verkauft wurden."
Mit dem Beginn der Naziherrschaft in Deutschland wurde die Situation in Loheland jedoch angespannt. Die beiden Gründerinnen hatten verschiedene Vorstellungen, wie mit der NS-Herrschaft umzugehen sei. Louise Langgaards oberstes Ziel war es, Loheland vor einer Schließung zu bewahren. Auch wenn dies Zugeständnisse an die Nationalsozialisten bedeutete. Hedwig von Rohden lehnte jedes Zugeständnis strikt ab.
"Sie konnte diesen Schritt nicht vollziehen, den Langgaard gemacht hatte im dritten Reich. Man muss natürlich bestimmte Einbußen hinnehmen oder Dinge hinnehmen. Sonst wäre Loheland geschlossen worden und nie mehr aufgeblüht. Bestimmt nicht. Und dann? Da kann man sich fragen, was ist nun besser?"
Für Hedwig von Rohden war die Antwort eindeutig. Sie war zu keinem Zugeständnis an die Nazis bereit. Von Rohden verließ Loheland. Die beiden Gründerinnen treffen sich nie wieder. Erst nach Louise Langgaards Tod kehrt von Rohden nach Loheland zurück.
Louise Langgaard bildete junge Frauen des Reichsarbeitsdienstes zu Gymnastiklehrerinnen aus und die Schriften Rudolf Steiners wurden nur noch unter dem Pult gelesen. Die 1941 bevorstehende Schließung konnte sie mit Hilfe einflussreicher Freunde aus der Jugendbewegung abwenden. Damit war Loheland die einzige anthroposophische Gemeinschaft, die die NS-Zeit überstand.
Dies kam am Ende des Krieges vor allem etwa 100 Kindern zugute. Loheländerinnen aus ganz Deutschland schickten ihre Kinder, um sie vor den Bombenangriffen auf die großen Städte in Sicherheit zu bringen. Fulda blieb zwar nicht verschont, aber Loheland überstand die Angriffe. Die Kinder bildeten nach dem Krieg die erste Generation Waldorfschüler in Loheland. Im Laufe der Jahre entstand daraus eine 13-zügige Waldorfschule.
Die Bedeutung der Schule wuchs stetig.
Heute werden dort 500 Schüler unterrichtet. Eine Handvoll von ihnen lebt im Internat direkt in Loheland. Die Waldorfschule ist inzwischen die Haupteinnahmequelle Lohelands. Auch hier zeigt sich der Pragmatismus Louise Langgaards.
"Sie hat Entwicklungen betrachtet und gesehen, jetzt muss das in diese Richtung weitergehen."
Völlig unsentimental wurden die Werkstätten geschlossen, sobald sie nicht mehr zur Finanzierung Lohelands beitrugen. Die heute noch bestehenden Gewerke wie die Schmiede, die Tischlerei und der Gartenbau werden nur noch zu pädagogischen Zwecken genutzt.
Das Wissen um die Besonderheit des Ortes hat sich jedoch erhalten.
"Da waren Gymnastikfrauen, die brauchten Platz (...) wo die ihre Gymnastik betreiben konnten und dann hat ein Bauer gesagt, ihr könnt mein Loheland haben hier oben und dann haben sie halt hier oben angefangen, die Häuser zu bauen. Und dann ist so langsam Loheland entstanden."
Der kleine Julius hat wie alle Schüler der Waldorfschule im vierten Schuljahr die Entstehungsgeschichte Lohelands durchgenommen. Trotzdem sind einige der älteren Loheländerinnen mit der neuen Rollenverteilung nicht zufrieden.
Antje Harken bemängelt:
"Da habe ich den Eindruck, es könnte ein bisschen stärker der Urgrund betont werden, um zu wissen, an welchem Ort man ist. Es spielt keine Rolle. Die Schule steht jetzt so im Mittelpunkt. Man kuckt nur auf die Schule hin. Dass die Schule aber hat nur entstehen können an diesem Ort. Hier ist ja keine Umgebung, aus der die Schüler direkt kommen. Für uns ist es jetzt natürlich sehr anders geworden."
Lohelands Gesicht hat sich verändert. Aus dem Amazonenstaat ist eine bunte Mischung geworden. Heute leben mehrere Generationen Loheländer – von den Schülern des Internats über Lehrer mit ihren Familien bis zu den alten Loheländerinnen – in dem kleinen Dorf zusammen. Längst ist die Gymnastikschule nicht mehr nur Frauen vorbehalten.
"Es ist ja damals ganz ausdrücklich eine Schulung für die Frauen gewesen. Dem weiblichen Körper entsprechend. Es hat lange gedauert bis man auch Männer in die Ausbildung genommen hat. Es hat sich aber herausgestellt, dass die Gymnastik auch da anwendbar ist."
Martin Anders ist im Moment der einzige Student der Gymnastikakademie. Manchmal sind es auch ihm ein bisschen viel Frauen um ihn herum.
"Ach, das ist für mich nicht so ein Thema. Ich wurde sehr gut aufgenommen, und es hat seine Nachteile natürlich auch. Das Kommunikative. Als einziger Mann. Es fehlt mir so ein bisschen ... mit Kumpels. Aber an sich ist das kein Problem."
Für Besucher ist die schmale Straße, die in den Wald Richtung Loheland führt, leicht zu übersehen. Nur ein kleines grünes Ortsschild gibt einen Hinweis. Von der Hauptstraße aus ist das kleine Dorf auf dem Herzberg nicht zu erkennen. Zu dicht hat sich der Wald um die Häuser geschlungen.
Die Gründe, diesen idyllischen Ort mitten im Wald, mit einem atemberaubenden Blick in die Rhön, aufzusuchen, sind heute sehr viel profaner als vor 80 Jahren.
Frau Dr. Neindorf beobachtet eine entscheidende Veränderung:
"Das war eine Überlegung bei den Menschen, nicht nur die Gymnastikausbildung zu machen, sondern auch dieses einfache Leben auf dem Lande zu führen. Ich denke, dass es heute den Studentinnen egal wäre, wenn sie in der Stadt die Ausbildung machen könnten. Die Art der Menschen, die kommen, ist eine ganz andere. Wenn ich die jungen Gymnastikstudentinnen anschaue, sind sie ganz im heutigen Leben drin. Dieses Bewusstsein, eine völlig andere Lebensform zu wählen, das ist heute überhaupt nicht dabei."
Nicht mehr eine explizit antibürgerliche Lebensweise bringt die Menschen nach Loheland, sondern die Möglichkeit einer Berufsausbildung, der Besuch einer Privatschule oder ein Wellness-Wochenende mit Lohelandgymnastik.
"Ich denke, die Vielfalt, die hier in Loheland immer gewesen ist, die hat auch dazu beigetragen, dass es immer noch erhalten ist."
Der Ruhm mag verblasst sein, aber wer heute nach Loheland kommt, spürt immer noch den Zauber, den es auf seine Besucher ausübt - mit seinen märchenhaften Gebäuden und seiner bewegten Geschichte.
Eine Schar junger Frauen - und ein einzelner junger Mann - singen sich warm.
Barfüßig und in ausgelassener Stimmung stehen sie im Saal des Giebelhauses: ein imposanter, rosafarbener Bau mit einem Sockel aus großen Bruchsteinen. Mit seinem weit nach vorne geneigtem, holzverkleidetem Giebel erinnert der mächtige Bau an ein Kreuzfahrtschiff. Die in halbrunden Holzbögen eingefassten Fenster verleihen ihm etwas Märchenhaftes.
Es ist Semesterende an der Gymnastik - Akademie – Loheland. Der Gesang dient als Lockerungsübung.
Im Laufe des Vormittags zieht die Gruppe der Studenten vom Giebelhaus in den Franziskusbau. In dem dunklen, höhlenartigen Gemäuer aus riesigen Natursteinen finden die Proben zur Semester-Abschluss - Arbeit statt.
Duster und fröstelig ist es an diesem Julimorgen, doch die jungen Loheländerinnen sind vertieft in ihre Choreografie. Die bunte Straßenkleidung ist reinweißen Gymnastikanzügen gewichen.
Sehr aufrecht und außergewöhnlich leise laufen sie in großen Ausfallschritten durch den Saal. Sie werfen dabei einen Stab gerade so hoch, dass er sich einmal drehen kann und dann wieder sicher in ihrer Hand landet. Es ist eine fließende Bewegung, wie aus einem Guss.
Dann stellen sich vier junge Frauen in die Mitte und halten sich mit einer Hand aneinander fest. An der jeweils anderen Hand bildet sich eine Kette von je drei Studentinnen. Dann beginnen sie sich wie ein Karussell zu drehen. Es entsteht eine menschliche Zentrifuge. Doch welchem Ziel dienen diese Übungen?
"Es wird geschult, wie der Mensch sich bewegen kann. Ganz menschlich und ganz einfach, so aber sinnvoll, dass er nicht Kräfte verbraucht unnötig, sondern dass er sich seines Menschseins bewusst wird. Dass die Bewegung auch ein Element sein kann, um den Menschen wirklich zu bilden, weiterzubilden."
Antje Harken, - eine burschikose 76-Jährige, mit kurzgeschnittenen, streng nach hinten gekämmten Haaren und sehr aufrechter Haltung, - ist Gymnastiklehrerin in Loheland. Bis heute gibt sie Gymnastikunterricht, sie lebt seit 1948 in Loheland. Da bestand der kleine Ort bereits seit fast 30 Jahren.
1919 gründeten Luise Langgaard und Hedwig von Rohden auf dem Herzberg nahe Fulda die "Loheland - Schule für Gymnastik, Landbau und Handwerk". Es war eine reine Frauensiedlung. Der völlig unerschlossene Berg wurde von den Loheländerinnen in ein idylisches Dorf verwandelt. Märchenhaft anmutende Häuser entstanden. Der Blick des Besuchers fällt als erstes auf das Steinhaus - ein rundes kleines Häuschen, in der Form eines spitzbehüteten Pilzes. Wie die meisten Gebäude hat auch dieses phantasievolle, kleine Häuschen Louise Langgaard selbst entworfen.
Laut Werbung aus dem Jahr 1920 sollte Loheland die "Schicksalsstätte für das kommende weibliche Geschlecht" werden.
Heute ist es die älteste anthroposophische Dorfsiedlung Deutschlands. Sie besteht ohne Unterbrechung seit fast 90 Jahren. Außerhalb Fuldas weiß jedoch kaum noch jemand etwas mit dem Namen Loheland anzufangen.
Die ehemalige Vorsitzende der Loheland Stiftung, Dr. Wedis Neindorf, eine drahtige 81-Jährige, beschreibt die Anfänge:
"Sie wollten anders sein, z.B. die Haare wurden abgeschnitten - der Zopf fiel. Das Korsett wurde abgeschafft, man ging barfuß, wenn es irgend ging. Was zum Teil den Spott der Bauern eingetragen hat. Das war damals in dem Aufbruch am Anfang des vorigen Jahrhunderts, wo man sich aus Zwängen befreien musste, vor allem als Frau."
Sie selbst kam bereits 1929, noch nicht ganz zwei Jahre alt, mit ihrer Mutter das erste Mal nach Loheland. Immer wieder kehrte sie in das kleine Dorf zurück, bis sie schließlich 1976 für immer blieb.
"Es geht aus ein Wahlspruch von Frau Langgaard: Bewegung ist ein Element des Lebens. Pflegen wir Bewegung, pflegen wir den ganzen Menschen. Bewegung ist ein Bildungselement. Es kommt hier nicht nur darauf an, körperlich beweglich zu sein, sondern auch seelisch und geistig beweglich zu sein."
Anfang des 20. Jahrhunderts schloss sich die bürgerliche Jugend in Bünden, wie dem Wandervogel oder der Jugendbewegung, zusammen. Die jungen Leute wollten zurück zu einem einfacheren, bodenständigeren Leben und gaben sich explizit antibürgerlich. Wandern und Bewegung spielten eine zentrale Rolle. Gemeinsames Siedeln war das hehre Ziel. Verwirklicht wurde es kaum. Loheland wurde zur gelebten Utopie. Ein kollektives Lebensmodell sollte ausprobiert werden.
"Die kamen entweder direkt aus der Jugendbewegung oder auch aus der Kunsterzieherbewegung, aus diesen Aufbrüchen Anfang des Jahrhunderts waren das die meisten Menschen."
Die Loheländerinnen der ersten Generation lebten noch bei den Bauern der Umgebung. Oft haben die Gymnastikschülerinnen neben ihrer Ausbildung auch bei den Bauern auf den Feldern gearbeitet, um ihre Miete zu bezahlen. Jeden Tag bewältigten sie lange Fußmärsche, um Loheland zu erreichen.
"Wir habe im Dorf gewohnt in einer kleinen Gemeinschaft und sind dann jeden Tag hier rauf gepilgert und haben dann unsere Stunden gehabt und sind dann wieder nach Hause gepilgert."
Anfangs bestand die Siedlung aus Zelten. Erst nach und nach entstanden auf dem kleinen Berg auch Wohnhäuser.
"Die Gymnastikschule bestand schon sieben Jahre vorher, aber an verschiedenen Orten. Aber dann hatte Frau Langgaard den Wunsch, Eigentum zu erwerben und einen Ort zu schaffen, wo man rundum auch die menschlichen Tätigkeiten haben kann. Deswegen war das Grundstück hier gerade recht, weil man hier den Boden bebauen konnte und Handwerk treiben konnte. Und all das, was die Menschen damals unmittelbar brauchten. Es war Inflationszeit, es gab nichts."
Die Grundlage der Gemeinschaft bildete die Anthroposophie Rudolf Steiners. Darauf aufbauend hatten Louise Langgaard und Hedwig von Rohden bereits in den Jahren vor der Gründung Lohelands eine eigene Form von Gymnastik entwickelt.
"Das ist eine Gymnastik, die ist speziell für Frauen hervorragend. Auf die weibliche Anatomie und den weiblichen Bewegungsdrang. Dieses ganze z.B. auch dieses Ballfangen, nicht wie ein Mann. Man fängt ihn und geht mit dem Ball noch ein Stück mit. Es ist also weicher irgendwie. Und sie orientiert sich irgendwie so an klassischen Vasenbildern. An diesen Bewegungen, die diese Griechinnen da drauf haben."
Christel Wehnert studierte Lohelandgymnastik bei Eva-Maria Deinhardt, die zur ersten Generation der Loheländerinnen gehörte.
Vor dem Zweiten Weltkrieg genoss Loheland einen Ruf weit über die Grenzen Fuldas hinaus. Vor allem die deutschlandweiten Tanzaufführungen mit Eva Maria Deinhardt und Berta Müller sorgten für Furore. Eine Tournee 1919 machte Loheland mit einem Schlag in ganz Deutschland bekannt.
Schon die Titel dieser Ausdruckstänze, "Rufen - Stimmen des Frühlings" oder "Strömung", passten gut in die Zeit der fiebrigen Aufbruchstimmung während der 20er Jahre. Die "Tänze aus Loheland" erregten große Aufmerksamkeit. Ein neues Bild von Weiblichkeit wurde den Zuschauern vermittelt. Eva-Maria Deinhardt und Berta Günther trugen futuristische Kostüme aus Papierschnüren und goldgleißendem Material. In Illustrierten wurden große Bildberichte über sie gedruckt. Überall wurden die herausragenden Tanzaufführungen gelobt.
Ein Brand im Jahr 1923 zerstörte sämtliche Kostüme. Louise Langgaard und Hedwig von Rohden nahmen dies zum Anlass, die Tanzdarbietungen zu beenden.
Die Gymnastik und die Gemeinschaft sollten wieder stärker in den Vordergrund gerückt werden.
"Gymnastik ist kein Ausdruckstanz. Und dies war Ausdruckstanz und zwar entsteht das, wenn Menschen sich in der Bewegung zu Hause fühlen, dann kriegen sie auch Lust, etwas zum Ausdruck zu bringen. Man hat ja gesehen, dass Louise Langgaard einen anderen Weitblick hatte. Da hat sie dann gesagt, jetzt ist Schluss damit. (...) Irgendwie passte es nicht mehr und das war wohl auch ganz gut so."
Nicht einzelne Personen sollten herausgehoben werden, sondern Loheland als Gemeinschaft war wichtig. Für Louise Langgaard stand das Überleben Lohelands an erster Stelle. Pragmatisch und weitsichtig verfolgte sie dieses Ziel. Die Loheländerinnen gründeten verschiedene Handwerksbetriebe, um die Gymnastikschule zu finanzieren. Das Kurioseste war mit Sicherheit die vegetarische Doggenzucht und der Verkauf der Tiere in die USA. Die tatsächlich fleischlos ernährten Tiere haben noch heute in den USA einen hervorragenden Ruf.
Dr. Neindorf erinnert sich:
"Wenn die nach Amerika verkauft wurden, das war ein Batzen Geld, der da zurück kam, für die damalige Zeit."
Eine der Doggen wurde vom damaligen New Yorker Bürgermeister gekauft. Im Internet schwärmen immer noch Doggenzüchter aus den USA von diesen stattlichen Tieren aus Loheland.
Aber besonders bemerkenswert sind Tischlerei, Weberei und Fotowerkstatt. Produkte aus Loheland galten in den 20er Jahren als Markenwaren. In einem Atemzug wurden sie mit Namen wie Villeroy und Boch oder Hutschenreuther genannt. Auf allen großen Messen in Leipzig und Frankfurt war die Marke Loheland vertreten. Loheland stand für modernes zeitgemäßes Design. In allen Betrieben entstanden Meisterwerke. Die in Loheland entworfenen Produkte spiegeln den Geist der 20er Jahre – klar und schnörkellos erinnern Tische, Stühle oder die gewebten Stoffe an die Ästhetik des Bauhauses. Die Handwerksbetriebe bildeten aber nicht nur das finanzielle Fundament. Im Sinne einer ganzheitlichen Ausbildung konnten die Gymnastikschülerinnen dort auch eine Berufsausbildung machen. Für junge Frauen aus bürgerlichen Haushalten keine Selbstverständlichkeit.
Der moderne Geist Lohelands spiegelt sich auch in der Fotografie. Von Anfang an haben die Loheländerinnen ihr Projekt mit der Kamera begleitet. Die Bilder zeigen die Loheländerinnen bei Volkstänzen, der Gymnastik oder bei der Arbeit in den Werkstätten. Auch die Doggen sind zu sehen. Bemerkenswert sind die Fotos der Ausdruckstänze. Sie sind ungewöhnlich dynamisch und lassen die Bewegung dahinter erahnen.
1926 wurde eigens die "Lichtbildwerkstatt Loheland" gegründet. Dr. Neindorf erinnert sich an die ungewöhnliche Unterbringung der Werkstatt, in der sogenannten Waggonia.
"Die Waggonia besteht aus im ganzen vier früheren vierten Klasse - Eisenbahnwagen. Die vierte Klasse war so, dass man nur an den Außenwänden Bänke hatte. Da war nicht so viel rauszureißen. Es ist von innen ausgebaut worden und man sieht von außen, dass die Fenster noch zum Teil so sind, wie sie bei den früheren Eisenbahnwagen waren."
In den heute von Studentinnen der Loheland Akademie bewohnten Waggons entstanden hochklassige Werbe- , Portrait- und Landschaftsaufnahmen. Die Loheländerinnen setzten die Fotografie ganz gezielt zur Vermarktung ihrer Produkte ein. Die Fotos wirken auch aus heutiger Sicht erstaunlich modern.
Besonders herausragend sind jedoch die Fotogramme der Loheländerin Berta Günther. Ohne Kamera experimentierte sie mit der direkten Belichtung des Fotopapiers. Die Arbeiten zeigen vor allem bizarre Blüten- und Blätterkompositionen. Diese aufsehenerregenden Bilder wurden in den 20er Jahren wie selbstverständlich neben die Fotogramme Man Rays gestellt.
"In Hamburg, Breslau, Dresden sind ganze Lohelandhäuser entstanden, wo dann auch die Erzeugnisse der Werkstätten verkauft wurden."
Mit dem Beginn der Naziherrschaft in Deutschland wurde die Situation in Loheland jedoch angespannt. Die beiden Gründerinnen hatten verschiedene Vorstellungen, wie mit der NS-Herrschaft umzugehen sei. Louise Langgaards oberstes Ziel war es, Loheland vor einer Schließung zu bewahren. Auch wenn dies Zugeständnisse an die Nationalsozialisten bedeutete. Hedwig von Rohden lehnte jedes Zugeständnis strikt ab.
"Sie konnte diesen Schritt nicht vollziehen, den Langgaard gemacht hatte im dritten Reich. Man muss natürlich bestimmte Einbußen hinnehmen oder Dinge hinnehmen. Sonst wäre Loheland geschlossen worden und nie mehr aufgeblüht. Bestimmt nicht. Und dann? Da kann man sich fragen, was ist nun besser?"
Für Hedwig von Rohden war die Antwort eindeutig. Sie war zu keinem Zugeständnis an die Nazis bereit. Von Rohden verließ Loheland. Die beiden Gründerinnen treffen sich nie wieder. Erst nach Louise Langgaards Tod kehrt von Rohden nach Loheland zurück.
Louise Langgaard bildete junge Frauen des Reichsarbeitsdienstes zu Gymnastiklehrerinnen aus und die Schriften Rudolf Steiners wurden nur noch unter dem Pult gelesen. Die 1941 bevorstehende Schließung konnte sie mit Hilfe einflussreicher Freunde aus der Jugendbewegung abwenden. Damit war Loheland die einzige anthroposophische Gemeinschaft, die die NS-Zeit überstand.
Dies kam am Ende des Krieges vor allem etwa 100 Kindern zugute. Loheländerinnen aus ganz Deutschland schickten ihre Kinder, um sie vor den Bombenangriffen auf die großen Städte in Sicherheit zu bringen. Fulda blieb zwar nicht verschont, aber Loheland überstand die Angriffe. Die Kinder bildeten nach dem Krieg die erste Generation Waldorfschüler in Loheland. Im Laufe der Jahre entstand daraus eine 13-zügige Waldorfschule.
Die Bedeutung der Schule wuchs stetig.
Heute werden dort 500 Schüler unterrichtet. Eine Handvoll von ihnen lebt im Internat direkt in Loheland. Die Waldorfschule ist inzwischen die Haupteinnahmequelle Lohelands. Auch hier zeigt sich der Pragmatismus Louise Langgaards.
"Sie hat Entwicklungen betrachtet und gesehen, jetzt muss das in diese Richtung weitergehen."
Völlig unsentimental wurden die Werkstätten geschlossen, sobald sie nicht mehr zur Finanzierung Lohelands beitrugen. Die heute noch bestehenden Gewerke wie die Schmiede, die Tischlerei und der Gartenbau werden nur noch zu pädagogischen Zwecken genutzt.
Das Wissen um die Besonderheit des Ortes hat sich jedoch erhalten.
"Da waren Gymnastikfrauen, die brauchten Platz (...) wo die ihre Gymnastik betreiben konnten und dann hat ein Bauer gesagt, ihr könnt mein Loheland haben hier oben und dann haben sie halt hier oben angefangen, die Häuser zu bauen. Und dann ist so langsam Loheland entstanden."
Der kleine Julius hat wie alle Schüler der Waldorfschule im vierten Schuljahr die Entstehungsgeschichte Lohelands durchgenommen. Trotzdem sind einige der älteren Loheländerinnen mit der neuen Rollenverteilung nicht zufrieden.
Antje Harken bemängelt:
"Da habe ich den Eindruck, es könnte ein bisschen stärker der Urgrund betont werden, um zu wissen, an welchem Ort man ist. Es spielt keine Rolle. Die Schule steht jetzt so im Mittelpunkt. Man kuckt nur auf die Schule hin. Dass die Schule aber hat nur entstehen können an diesem Ort. Hier ist ja keine Umgebung, aus der die Schüler direkt kommen. Für uns ist es jetzt natürlich sehr anders geworden."
Lohelands Gesicht hat sich verändert. Aus dem Amazonenstaat ist eine bunte Mischung geworden. Heute leben mehrere Generationen Loheländer – von den Schülern des Internats über Lehrer mit ihren Familien bis zu den alten Loheländerinnen – in dem kleinen Dorf zusammen. Längst ist die Gymnastikschule nicht mehr nur Frauen vorbehalten.
"Es ist ja damals ganz ausdrücklich eine Schulung für die Frauen gewesen. Dem weiblichen Körper entsprechend. Es hat lange gedauert bis man auch Männer in die Ausbildung genommen hat. Es hat sich aber herausgestellt, dass die Gymnastik auch da anwendbar ist."
Martin Anders ist im Moment der einzige Student der Gymnastikakademie. Manchmal sind es auch ihm ein bisschen viel Frauen um ihn herum.
"Ach, das ist für mich nicht so ein Thema. Ich wurde sehr gut aufgenommen, und es hat seine Nachteile natürlich auch. Das Kommunikative. Als einziger Mann. Es fehlt mir so ein bisschen ... mit Kumpels. Aber an sich ist das kein Problem."
Für Besucher ist die schmale Straße, die in den Wald Richtung Loheland führt, leicht zu übersehen. Nur ein kleines grünes Ortsschild gibt einen Hinweis. Von der Hauptstraße aus ist das kleine Dorf auf dem Herzberg nicht zu erkennen. Zu dicht hat sich der Wald um die Häuser geschlungen.
Die Gründe, diesen idyllischen Ort mitten im Wald, mit einem atemberaubenden Blick in die Rhön, aufzusuchen, sind heute sehr viel profaner als vor 80 Jahren.
Frau Dr. Neindorf beobachtet eine entscheidende Veränderung:
"Das war eine Überlegung bei den Menschen, nicht nur die Gymnastikausbildung zu machen, sondern auch dieses einfache Leben auf dem Lande zu führen. Ich denke, dass es heute den Studentinnen egal wäre, wenn sie in der Stadt die Ausbildung machen könnten. Die Art der Menschen, die kommen, ist eine ganz andere. Wenn ich die jungen Gymnastikstudentinnen anschaue, sind sie ganz im heutigen Leben drin. Dieses Bewusstsein, eine völlig andere Lebensform zu wählen, das ist heute überhaupt nicht dabei."
Nicht mehr eine explizit antibürgerliche Lebensweise bringt die Menschen nach Loheland, sondern die Möglichkeit einer Berufsausbildung, der Besuch einer Privatschule oder ein Wellness-Wochenende mit Lohelandgymnastik.
"Ich denke, die Vielfalt, die hier in Loheland immer gewesen ist, die hat auch dazu beigetragen, dass es immer noch erhalten ist."
Der Ruhm mag verblasst sein, aber wer heute nach Loheland kommt, spürt immer noch den Zauber, den es auf seine Besucher ausübt - mit seinen märchenhaften Gebäuden und seiner bewegten Geschichte.