„Rette Dich selbst und lass Dich nicht retten!“
Warum gibt es kaum Geschichten von wehrhaften Frauen*? Wie kann man produktiv von Frauen* und Gewalt erzählen? Die Regisseurinnen des Hörspiels „(save me) not“ über Gegenentwürfe zum Stereotyp und über die Arbeit im Performance-Kollektiv „Frauen und Fiktion“.
Deutschlandfunk Kultur: Ein Fräulein ist in Not. Sagen wir, sie wurde entführt. Jetzt wartet sie darauf, gerettet zu werden. Natürlich von einem männlichen Helden. Und natürlich, by the way, ist sie wunderschön. Das kennen wir zur Genüge - aus Kinderbüchern, Märchen, aus der griechischen Mythologie. In "(save me) not" erzählen und inszenieren Sie Alternativen zu diesem Klischee. Wie haben Sie sich das Fräulein, das gerettet werden muss, vorgeknöpft?
Anja Kerschkewicz: Am Anfang wussten wir nur: Wir wollen zum Thema Frauen und Gewalt arbeiten. Im Zuge der Arbeit ist uns aufgefallen, dass in Erzählungen sexualisierte Gewalt und damit die weibliche Opferrolle sehr präsent sind. Und wir haben uns gefragt: Was könnte ein Gegenentwurf zur Opferrolle sein? Inwiefern bedeutet eine Frau, die sich mit ihrem Gewaltpotential auseinandersetzt, einen Bruch mit der Norm? Und inwieweit können wir Geschichten von wehrhaften Frauen erzählen, um dem vorherrschenden Täter-Opfer-Schema zu begegnen? Was macht das mit uns?
Deutschlandfunk Kultur: In Ihren Arbeiten im Kollektiv nähern Sie sich einem Thema immer auch über biografische Interviews. Wessen alternative Lebensgeschichten fließen in das Hörspiel "(save me) not" ein?
Eva Kessler: Wir haben sehr unterschiedliche Frauen interviewt. Eine Sozialarbeiterin, die mit Sexualstraftätern im Gefängnis arbeitet, eine Anti-Aggressionstrainerin, die mit Mörderinnen arbeitet, wir haben eine Heilerzieherin interviewt, die uns eine Jugendgeschichte anvertraut hat…
Anja Kerschkewicz: …außerdem noch eine Türsteherin und eine Kneipenwirtin. Unter anderem deshalb, weil sie in sehr gewaltaffinen Milieus arbeiten, in denen auch Drogenkonsum und Alkohol alltäglich sind. Anfangs hatten uns vor allem Initiationserzählungen von Frauen interessiert – Erzählungen von Situationen, in denen sie sich zum ersten Mal zur Wehr gesetzt haben. Später ging es dann mehr um Selbstverteidigung und Kämpfen. Eine zentrale Figur im Hörspiel ist die ehemalige Taekwondo-Weltmeisterin Sunny Graff. Sie kommt aus dem US-Bundesstaat Ohio. Dort hat sie in der Frauenbewegung mit daran gearbeitet, dass Gewalt an Frauen überhaupt erst sichtbar wird. Es gab in ihrer Jugend zum Beispiel keinen Notruf für vergewaltigte Frauen und keine Frauenhäuser. Sie hat dann eines der ersten Notruftelefone eingerichtet, als Reaktion darauf, dass eine ihrer Freundinnen beim Trampen ermordet wurde. Das Thema Gewalterfahrung bei Frauen hat sie zu ihrem Lebensthema gemacht. Später ist sie nach Deutschland gekommen und hat in Frankfurt den Verein "Frauen in Bewegung" gegründet, der Kampftraining nur für Frauen und Mädchen anbietet.
Deutschlandfunk Kultur: Biografische Interviews sind nicht der einzige Weg, wie Sie ein Thema angehen. Wie funktioniert Ihre Recherche darüber hinaus?
Eva Kessler: Wir nähern uns einem Thema auch historisch. Wir gucken einmal zurück in die Geschichte. Was gibt es für Dokumente oder Erzählungen, die im kollektiven Gedächtnis nicht so präsent sind?
Anja Kerschkewicz: Bei einer der Geschichten, die wir gefunden haben, wissen wir zum Beispiel nicht: Ist das eine Legende? Die Geschichte einer Shaolin-Nonne, die das Wing Tsun erfunden haben soll. Später haben aber Männer Wing Tsun weitergeführt. Außerdem sind wir bei der Recherche auf eine MMA-Kämpferin gestoßen, die sich wissenschaftlich mit Frauen und Kampfsport auseinandergesetzt hat. Was für eine Geschichte ist von boxenden Frauen überliefert? Sie hat über Zeitungsartikel zurückrecherchiert bis 1720. Da taucht das erste Beispiel einer boxenden Frau auf, die verschiedene Kontrahentinnen herausgefordert hat. Obwohl Boxen von Frauen schon lange praktiziert wurde, hat es der Sport für Frauen lange nicht in einen repräsentativen Wettkampf geschafft. Boxen ist für Frauen erst seit 2012 olympisch. Eine zentrale Frage unserer Auseinandersetzung lautet: Was bedeutet es eigentlich, wenn Frauen als ebenbürtige Gegnerinnen akzeptiert werden?
Eva Kessler: Dann nähern wir uns einem Thema auch medial. Wir setzen einen medienkritischen Blick auf und schauen: Wie könnten wir eine andere Erzählung schaffen? Dieses Thema – Gewalt – hat aber auch einen stark körperlichen Zugang. Also haben wir selber verschiedene Trainings besucht, um uns mit dem Moment der eigenen Wehrhaftigkeit auseinanderzusetzen: Was passiert eigentlich, wenn ich über bestimmte Knockout-Techniken Bescheid weiß? Gibt mir das ein größeres Gefühl von Sicherheit? Kann ein Training Empowerment bedeuten? Oder gehe ich durch die Welt und sehe nur noch Gefahren?
Deutschlandfunk Kultur: Das Setting von "(save me) not" ist ein Computerspiel. Warum?
Eva Kessler: Computerspiele sind ein zeitgenössisches Medium, in dem man sich mit Gewalthandlungen auseinandersetzt. Und da ist eben dieses Narrativ der Frau, die zu retten ist, sehr präsent.
Deutschlandfunk Kultur: Die Performance und auch das Hörspiel sind an die Ästhetik eines Action-Adventure-Games angelehnt. Die Schauspielerinnen durchlaufen verschiedene Levels: Aufbrechen, Verteidigen, Kämpfen und Auflösen. Was ist bei erfolgreichem Durchlaufen des Computerspiels erreicht?
Anja Kerschkewicz: Man hat bestenfalls einen anderen Blick auf geschichtliche Zusammenhänge dazugewonnen. Einen Blick auf Spezialfälle – nicht nur auf die Norm. Außerdem ist das Wissen aus dem Selbstverteidigungsprogramm für viele erstaunlich: Zu wissen, wenn Du angegriffen wirst, hast Du jedes Recht, Dich mit allen Mitteln zu verteidigen. Das ist etwas so Grundlegendes, was vielen Leuten aber nicht klar ist. Und: Wenn ich das Stück erstmals sehen oder hören würde, wäre ich vermutlich einfach ziemlich happy über diesen Blick auf Frauen. Und hätte am Ende so einen Satz im Kopf wie "I'm the greatest of all time".
Eva Kessler: Man geht mit einem selbstermächtigenden Gefühl heraus, wenn man das Stück gesehen oder gehört hat, aber auch mit dem drängenden Gefühl, dass es noch sehr viel zu tun gibt. Dass wir längst nicht in einer Gesellschaft leben, in der wir als gleichwürdige oder gleichwertige Partnerinnen akzeptiert werden, sondern in der es ein unterschwelliges Verständnis davon gibt, dass Frauen nach wie vor das schwächere Geschlecht sind, das man beschützen muss. Und dieser Imperativ, der in dem Stück letztlich verborgen steckt – "Rette Dich selbst und lass Dich nicht retten!" – ist ein Gedanke von Empowerment. Dass ich weiß, ich habe ein körperliches Potenzial, das ich einsetzen kann. Das halte ich für ganz wesentlich.
Deutschlandfunk Kultur: Stichwort Imperativ: Sehen Sie "(save me) not" auch als feministischen Aufruf? Sollten Frauen* einen "Heldinnenweg" wie in dem Computerspiel durchlaufen?
Anja Kerschkewicz: Ich glaube nicht, dass es eine Gebrauchsanweisung gibt, wer was tun sollte. Das ist ja auch die kritische Frage: Inwiefern soll Gewalt ein Gegenmittel zu Gewalt sein? Es gibt einen starken Vorbehalt gegen Gewalt. Dass sie als etwas rein Zerstörerisches und Negatives gesehen wird. Aber man muss aufteilen in Gewalt und Aggression. Und sagen, dass Aggression eigentlich etwas ist, was allen Menschen ziemlich gut tut. Oder auch Wut. Beim Wen-Do-Training setzt man sich auch mit der eigenen Wut auseinander. Was zeigt die einem an? In der Hinsicht ist "(save me) not" auf jeden Fall eine Anregung, sich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, dass wir alle gleichzeitig verletzungsmächtig und verletzungsoffen sind. Wir tragen alle diese Potenziale in uns. Deswegen kommt selbst der pazifistische Weg nicht darum herum, sich zumindest einmal mit seiner eigenen Verletzungsmacht auseinanderzusetzen. Danach kann man entscheiden: "Ich würde niemals kämpfen. Lieber würde ich mich umbringen lassen." Aber es ist die Frage, vor welchem Hintergrund entscheidet man sich dafür – weil man denkt, man hat keine Chance, oder weil man denkt, ich möchte nicht kämpfen, weil ich weiß, dass ich es könnte.
Eva Kessler: Es geht nicht darum, unserer Zuhörer*innen zu Held*innen zu machen, sondern sie einzuladen, die Narrative, die uns umgeben, zu reflektieren. Wir nehmen eine bestimmte Perspektive ein und laden dazu ein, sie gemeinsam mit uns einzunehmen. Für die Dauer des Hörspiels.
Deutschlandfunk Kultur: Sie sind ein Performance-Kollektiv und arbeiten unter dem Label "Frauen und Fiktion". Wie kann man sich Ihren Arbeitsprozess vorstellen von der Recherche bis zum künstlerischen Output?
Eva Kessler: Wir haben sehr unterschiedliche Ausbildungen durchlaufen. Wir sind interdisziplinär aufgestellt, mit Regie und Szenografie, mit Kostümbild, mit Medienwissenschaft, mit Schauspiel und angewandter Theaterwissenschaft. Und wir verhandeln tatsächlich in jedem Projekt – auch weil wir immer wieder mit neuen Menschen kollaborieren – neu, wie wir zusammenarbeiten. In die Recherchephase bringen wir uns alle ein, weil es uns wichtig ist, verschiedene Perspektiven auf ein Thema zu eröffnen. Dann unterteilen wir in verschiedene Expertinnengebiete. Es hat sich etwa als schwierig herausgestellt, zu viert eine Textfassung zu erstellen oder zu viert ein Computerspiel zu programmieren. Natürlich sind wir immer wieder in enger Abstimmung über die Ergebnisse der Einzelarbeit, um letztlich das Gefühl zu haben, man ist Teil des gesamten Ergebnisses und kann sich damit zu einem Großteil identifizieren.
Anja Kerschkewicz: Wir sehen den Texterzeugungsprozess als kollektive Autorinnenschaft, denn nicht nur fließen die Gedanken unseres gesamten Kollektivs ein. Auch die Personen, die uns ihre Geschichten erzählen, sind Urheber*innen. Und dafür geben wir ihnen auch gerne an jeder Stelle, an der es möglich ist, die Credits. Wir schöpfen aus vielem.
Deutschlandfunk Kultur: Auf was für Widerstände sind Sie bei der Recherche gestoßen?
Anja Kerschkewicz: Der Prozess der Auseinandersetzung und der Antragstellung für Projektgelder hat sehr lange gedauert, weil schnell der Vorwurf von Gewaltverherrlichung im Raum steht. Also mussten wir schon im Vorhinein eine plausible Antwort darauf finden, wieso wir das Thema Frauen und Gewalt auf diese Art betrachten möchten.
Eva Kessler: Auch bei dem Material, das von unseren Interviewpartnerinnen kommt, kommen wir an Grenzen. Wenn wir uns zwei Stunden eine Lebensgeschichte anhören, die wirklich schockierend, aber auch sehr berührend ist, stehen wir vor der Frage: Wie gehen wir künstlerisch mit diesem Material um? Es gibt ja auch eine Form von Verantwortung. Es ist ein Unterschied, ob ich mir einen Text ausdenke oder ob ich einen Text von einer Person nehme, den auf eine Bühne bringe und weiß, sie sitzt in der Premiere. Das macht einen ganz anderen Druck, weil wir als Künstlerinnen einerseits frei sein wollen, uns mit diesem Thema und dem Material zu beschäftigen. Und andererseits natürlich wissen, es gibt bestimmte Grenzen im Umgang mit diesem Material. Man kann nicht alles damit machen.
Deutschlandfunk Kultur: Sie sind geübte Theatermenschen, "(save me) not" war zunächst eine Performance für die Bühne. Welche Herausforderungen stellen sich Ihnen bei der Adaption für ein Hörspiel?
Eva Kessler: Es war eine Herausforderung, die visuelle Computerspielästhetik in eine akustische Ebene zu übersetzen. Es gibt einen sehr viel ausführlicheren musikalischen Zugriff jetzt, der die Levelstruktur stärker gestaltet. Wir mussten uns fragen: Wie wird die Computerstimme sein? Welche Haltung hat sie? Wie viel Leidenschaft darf sie haben? Wie artifiziell muss sie sein? Welche Stimmlage hat sie? Kann sie uns als genderneutrale Stimme gelingen, um dem Klischee der Frauenstimme in zumeist männlichen erdachten Systemen wieder eine Alternative entgegenzusetzen?
Deutschlandfunk Kultur: In "(save me) not" arbeiten Sie mit Einspielungen aus den Interviews, lassen Passagen aber auch von Schauspielerinnen nachsprechen. Was für einen Umgang suchen Sie mit dem Text?
Anja Kerschkewicz: Die Texte aus den Interviews sollen nicht allzu emotional aufgeladen werden. Das ist oft schwierig. Wenn jemand erzählt, "als ich 17 war, ist eine Freundin von mir ermordet worden", dann lädt es natürlich dazu ein, da schauspielerisch eine große Betroffenheit hineinzulegen. Die Taekwondo-Weltmeisterin Sunny Graff hat uns das aber im Alter von über 60 Jahren erzählt. Das war ein prägender Vorfall in ihrem Leben, aber sie steht jetzt an einem ganz anderen Punkt. Der Fokus ihrer Erzählung liegt eher darauf, wohin sie das gebracht hat. Wir arbeiten daran, nicht das Dokumentarische nachzuspielen, sondern wir fragen uns: Was für eine dem Text dienliche Sprecherinnenhaltung kann man finden, um es nicht pathetisch werden zu lassen und gleichzeitig auch nicht zu lapidar?
Eva Kessler: Es ist ein ganz schmaler Grat, indem man den Text ein bisschen gestaltet, aber eben nicht zu viel. Für Schauspieler*innen – ich bin ja selber eine – fühlt sich das an wie Underacting. Ich darf nicht auf mein gesamtes Repertoire zugreifen, sondern ich darf nur so eine Prise Salz oder eine Prise Zucker an diesen Text drangeben, um ihn lebendig werden zu lassen. In unserem Textmaterial wird die Emotion ja oft schon verbalisiert: "Ich war so wütend über dieses Ereignis". Und das ist der große Unterschied zu einem dramatischen Text: Diese Emotion würde nie verbalisiert werden, sondern die würde ich als Schauspielerin als Gefühl da drunter legen. Aber genau das braucht es eben bei diesen Interviewtexten nicht.
Das Interview für Deutschlandfunk Kultur führte Sarah Murrenhoff.
Zum Hörspiel "(save me) not" von Frauen und Fiktion:
Feministische Selbstverteidigung - (save me) not
(Deutschlandfunk Kultur, Freispiel, 02.07.2020)
(Deutschlandfunk Kultur, Freispiel, 02.07.2020)
"(save me) not" ist Teil des Schwerpunkts "Körper der Gewalt" der Sendung Freispiel:
Schwerpunkt - Körper der Gewalt
(Deutschlandfunk Kultur, Freispiel)
(Deutschlandfunk Kultur, Freispiel)