Frau von der Leyen war sehr gut im Jammern

Michael Thiel im Gespräch mit Ute Welty |
Mag nicht. Kann nicht. Will nicht. Politiker beherrschen die Jammerei genauso gut wie Kinder oder arbeitsscheue Kollegen. Der Autor Michael Thiel betrachtet die menschliche Nörgelei mal von der psychologischen Seite.
Ute Welty: Hier und da eine kleine tägliche Jammerei bewahrt Sie vor zu viel Stress in Job und Beziehung und lässt Sie gut durch den Tag kommen. Das rät der Diplompsychologe und Autor Michael Thiel seinen Lesern in seinem Buch "Deutschland, einig Jammerland", das er zusammen mit Annika Lohstroh geschrieben hat. Guten Morgen, Herr Thiel!

Michael Thiel: Schönen guten Morgen, Frau Welty!

Welty: Heute schon gejammert?

Thiel: Ja, heute Morgen, als der Wecker klingelte, ich glaube, das ist die typische Guten-Morgen-Jammerei, die fast jeder kennt, man muss so ein bisschen Druck ablassen. – Aber ich glaube, da bin ich bei Ihnen an der verkehrten Adresse, weil ich weiß ja, wann Sie heute morgen aufgestanden sind.

Welty: Halb drei!

Thiel: Ja! Und, auch ein bisschen gejammert oder gleich frisch in …

Welty: … ja, da war keiner da! Von daher hätte das auch, es wäre sozusagen verhallt!

Thiel: Ja, aber darf ich Ihnen schon mal den ersten psychologischen Tipp geben, auch Jammern vor dem Spiegel kann durchaus, wenn man sich morgens um halb drei anguckt, ein bisschen helfen. – Nein also, wir wollen jetzt nicht Jammern so nur positiv darstellen, aber in unserem Buch haben wir schon probiert, jetzt mal nicht nur zu sagen, 'Jammer nicht so rum und lass das Jammern, ach das kann ja keiner mehr hören', sondern wirklich mal die positiven Seiten des Jammerns zu entdecken.

Welty: Aber wie kommen Sie denn zu dem Schluss, dass Jammern und Nörgeln hilfreich ist im Leben? Landläufig herrscht ja die Meinung vor – und das vielleicht auch nicht ganz zu Unrecht, dass Nörgeln eher nervt?

Thiel: Ja, es nervt. Ja, da haben Sie vollkommen recht. Und es nervt so, dass man Jammerern, bevor sie noch weiter jammern, eher eine kleine Gefälligkeit zum Beispiel eben halt macht. Oder schon bei Kindern auch! Sie kennen die sogenannte Quengelware im Supermarkt vor den Kassen, die heißen ja nicht umsonst so: Der Kleine quengelt so lange, bis er jetzt endlich die ersehnte Schokolade bekommt. Aber Quengeln finden wir auch in der Politik, auch im Geschäftsleben oder im Büro, wenn wirklich ein Kollege so lange jammert, dass es keiner mehr hören kann, dann kriegt er mit hoher Wahrscheinlichkeit tatsächlich ein bisschen weniger Akten auf den Tisch. Also Jammern – und das ist das Ziel unseres Buches, zu zeigen – ist durchaus auch manipulativ, kann auch taktisch eingesetzt werden. Und wir sagen ganz deutlich: Vorsicht vor den Jammerlappen! Analysiert sie, bevor sie mit euch irgendetwas machen, was ihr vielleicht nicht wollt!

Welty: Das sei vielleicht auch den Eltern in der beschriebenen Situation an der Kasse empfohlen, denn die endet ja meist mit hilflosen Eltern, die entweder rot anlaufen und sagen: 'Zu Hause macht der oder die das nie.' Oder die drehen sich um, laufen auch dann rot an und tun so, als ob das Kind nicht zu ihnen gehört. Sind das erfolgversprechende Strategien gegen das Nörgeln?

Thiel: Nein, also bei den Nörglern, und jetzt nehmen wir wirklich mal die Kinder und das meine ich jetzt mal ganz ernst – unser Buch ist übrigens auch ein bisschen humoristisch, also es ist nicht nur trocken psychologisch …

Welty: … wäre ich jetzt nicht drauf gekommen!

Thiel: Nein, aber ich sag es nur mal, also bevor Sie sagen 'Hui, Psychologen, das ist alles so ganz ernst!' – nein, auch mit Augenzwinkern. Aber jetzt mal wirklich: Wenn Kinder anfangen zu nölen und zu jammern, ja, es kann manchmal sein, damit sie was bekommen, aber ich bitte auch darum, wirklich mal ein bisschen dahinter zu gucken und zu sehen, was ist los im Leben meines Kindes, was stört den wirklich in der Schule, im Kindergarten, was nervt ihn, was macht ihm Sorgen? Also Jammern ist ja auch immer ein Zeichen, ein Alarmsignal – auch in einer Beziehung zum Beispiel – einfach zu gucken: Warum, was ist der Grund dafür? Und deswegen: Was wir Psychologen immer so gerne machen, so Jammern einfach wegzutherapieren, nein, nein, nein, da werden wir dem Jammern nicht gerecht.

Welty: Manch einer hat ja schon vermutet, dass sich Kinder und Politiker sehr ähnlich sind und auch Sie stellen das fest: Nörgeln zieht sich bis auf die höchste Ebene hinauf. Wo liegt die Quengelware der Politiker, auch an der Kasse?

Thiel: Ja, zum Beispiel wenn es um Haushaltsberatung geht, wenn es darum geht, dass jeder vom Finanzminister noch ein paar Euros mehr abzocken will. Da ist derjenige schlecht beraten, der sagt: 'Mir geht es gut, lieber Finanzminister, ich brauche nicht so viel.' Der wäre ganz, ganz schlecht beraten und wir haben gehört, dass zum Beispiel damals Frau von der Leyen sehr gut im Jammern und Quengeln war und die hat eigentlich im Ressort immer relativ viel Geld abzocken können und …

Welty: … ja, das musste Finanzminister Peer Steinbrück alles aushalten!

Thiel: Ja, aber Gott, aber die hatte irgendwie so eine Art wohl draufgehabt, die konnte mit dem Peer gut umgehen. Unsere neue, jetzt schwangere Familienministerin ist halt da nicht so fit drin, und schwuppdiwupp musste die tatsächlich ein paar Tausend Euro weniger in ihrer Familienkasse verbuchen.

Welty: Wenn Sie jetzt das Nörgeln und Jammern jetzt vorsichtig, aber dann doch propagieren: Ihnen ist schon klar, dass Sie sich damit nicht nur Freunde machen?

Thiel: Nein, ich höre das jetzt schon: 'Na, das kann doch nicht sein!' Das ist ja auch so interessant, psychologisch auch, also ich glaube, wir haben einen Punkt getroffen, sonst würden die Leute nicht so darauf reagieren. Aber wenn man ein bisschen genauer guckt und mit den Leuten auch redet, dann sagen sie, ja tatsächlich, es gibt diese Kollegen, die rumjammern, und plötzlich habe ich die Arbeit!

Es gibt auch bei mir so etwas wie Langeweile-Nölen: Wenn ich nicht so weiß, was soll ich tun, Steuern hab' ich keine Lust, Fensterputzen auch nicht, dann nöl' ich so ein bisschen rum. Oder auch eben halt Jammern in der Beziehung: Also so mancher Mann und so manche Frau wird sich durch Jammern vor dem unliebsamen Abwasch oder vor irgendwelchen komischen Sachen durchaus drücken können.

Welty: Schuhe putzen.

Thiel: Zum Beispiel.

Welty: Wann schlägt Nörgeln und Jammern denn auf die Butterseite, wo ist die Grenze zwischen erfolgreicher Strategie für mich selbst und vergeblicher Liebesmühe? Und wo gehe ich dem Gegenüber so auf den Nerv, auf den Keks, dass ich mir das Gegenteil einhandele?

Thiel: Also um es mal auch deutlich zu sagen: Wir selbst, also meine Kollegin und ich, wir mögen schon mehr so einen anpackenden Lebensstil: Ja! Also es ist schon nicht so, dass man jetzt sagt: Wer jammert, kommt weiter. Und wenn wir jetzt mal so ganz aktuell sein dürfen auch im Deutschlandfunk: Es gibt ja dieses "Dschungelcamp", was jetzt durch alle Wohnzimmer wabert, und da sehen wir zum Beispiel, dass es eine Frau namens Sarah gibt, die durch ihr Jammern und Nölen eine Medienpräsenz erreicht hat, die unglaublich ist, also wirklich durch alle Wohnzimmer eben halt geht, aber seit gestern – ich hab es mir angeguckt – nervt die.

Die jammert jetzt zu viel, sie nervt die Campkollegen, sie nervt anscheinend auch die Zuschauer, und ich glaube, die hat den Bogen überspannt. Also bitte schön: Jammern, auch mal gucken, ob es den anderen jetzt wirklich, ob der schon rote Augen kriegt oder sich ganz schnell entfernt, dann ist es eindeutig zu viel. Und Jammern, auch das noch mal, da muss ich loswerden, soll auch immer eine Vorstufe von Veränderung sein! Das heißt also Jammern ist okay, wenn man sagt, ich muss dann jetzt was tun. Also dieses Signal sollte man wahrnehmen.

Welty: Der Buchautor und Diplompsychologe Michael Thiel in Deutschlandradio Kultur, und ich hatte am Gespräch nichts zu meckern!

Thiel: Oh, ich danke Ihnen!