Frau Holle und Dornröschen als Sinnbild des 19. Jahrhunderts

20.07.2012
Günter Grass als Märchenerzähler: Dornröschen, Hänsel und Gretel und Frau Holle werden lebendig. Eine spannende Reise in das 19. Jahrhundert, in die deutsche Sprache und zu alten Märchen-Texten ist jetzt als Neuedition erschienen.
Es war einmal - oder auch: unfassbar, wie lange das dann doch gedauert hat:

"Von "a" wie Anfang bis "z" wie "Zettelkram""

Er waren einmal zwei Brüder, liest oder vielleicht singt Günter Grass sprachrhythmisierend seine Vorstellung der Grimms […]

"[…] die Jacob und Wilhelm hießen, für unzertrennlich und landesweit als berühmt galten, weshalb sie ihres Nach-namens wegen die Brüder Grimm, von manchen ´Die Grimms´ genannt wurden."

Der Verlegerauftrag 1838 war klar: Meine Herren, ein Wörterbuch der deutschen Sprache muss her. Und fleißig sammelten Jacob und Wilhelm Grimm fortan Wörter und Zitate; ein paar Jahre, dann sollte alles fertig sein:

"So begann ihre Zettelwirtschaft. Von überall her schneite es Wörter und wortbezügliche Zitate. Jedem aufgelesenen Wort hatten die Sammler seine Herkunft nachzuweisen."

1854 erschien der erste Band. Doch am Ende schafften die Brüder Grimm nur einen Bruchteil dieses "Deutschen Wörterbuches", kamen gerade mal bis zum Buchstaben D. 1961, also mehr als 100 Jahre nach Vergabe des Auftrages, wurde das Projekt, angewachsen auf 32 Bände, beendet.

Die tiefe Verbeugung, die "Liebeserklärung", die er - wie er selbst sagt - vollzieht, indem er die Lebens-, Werk- wie politische Geschichte der Gründungsväter der deutschen Philologie erzählt, wird in diesem Hörbuch nun auf spannende Weise ergänzt. Und zwar um Märchen, die wir seit Kinderzeiten kennen - oder vielleicht zu kennen glauben:

"Hänsel und Gretel. - Frau Holle. - Daumesdick. - Der Froschkönig oder der Eiserne Heinrich. - Daumerlings Wanderschaft. - Das tapfere Schneiderlein."
Die vier CDs von "Grass trifft Grimm" fügen von Ulrike Hübschmann und Christian Brückner gelesene Grimmsche Märchen hinzu; die waren schon lange vor dem Beginn der Arbeit am "Deutschen Wörterbuch" erschienen.

"Als diese den Schneider sprechen hörten, überkam sie also eine große Furcht. Und keiner wollte sich mehr an ihn wagen. Also war und blieb das Schneiderlein sein Lebtag ein König."

In der Kombination mit Günter Grass´ wortmächtiger Annäherung an die Grimms entfalten die Märchen nun eine, man muss sagen, wunderbare Intensität. Wenn wir beispielsweise hören, wie Grass die Grimms in der bleiernen Zeit nach 1848 verortet.

"Weil Jacob sich gegen Ende des Revolutionsjahres verbittert in seine Gelehrtenstube zurückgezogen hatte."

Wenn wir also an die Restauration nach der ersten deutschen Revolution erinnert werden, ist dann dies wohlvertraute Märchen:

"Dornröschen"

… nicht auch so etwas wie ein Spiegel der Zeit? Und gleichzeitig über 1848 hinaus ein Bild über all die bleiernen Zeiten davor und danach, über die Erstarrung gesellschaftlicher Zustände ´hinter Dornenhecken´:

"Rings um das Schloss aber begann eine Dornenhecke zu wachsen, die jedes Jahr höher ward und endlich das ganze Schloss umzog und darüber hinaus wuchs, dass gar nichts mehr davon zu sehen war. Selbst nicht die Fahne auf dem Dach."

Und wenn Günter Grass von der Fahrt der Gebrüder Grimm durch Hessen berichtet ...

"Schreiende Armut allenthalben. Billig, wie beim Ausverkauf viel ihm zu, was redensartlich in aller Munde war: armer Wicht, armer Teufel, armer Schelm, auch noch das Armutszeugnis."

Wenn von Grass also die Verbindung zum "Deutschen Wörterbuch" - Buch-stabe "a", Stichwort "Armut" samt Varianten - gezogen ist, dann können wir - den neuen Horizont eröffnend - dieses Geschichte mit dem Titel Hänsel und Gretel dazu denken und hören, diese Horrorerzählung über das Aus-setzen von Kindern durch verarmte Eltern.

"Nein, Frau, sagte der Mann, das tue ich nicht, wie sollte ich es übers Herz bringen, meine Kinder im Walde allein zu lassen? Die wilden Tiere würden bald kommen und sie zerreißen. Oh, du Narr, sagte sie, dann müssen wir alles viere hungers sterben. Du kannst nur die Bretter für die Särge hobeln. Und ließ ihm keine Ruhe, bis er einwilligte." ...

... und Hänsel und Gretel sich im Wald verirrten. Auch dieses Märchen bietet viel an zum Verständnis der Zeit der Grimms, in der Spannbreite vom Archetypischen, Historischen bis zum Politischen. Die vier CDs des Hörbuchs "Grass trifft Grimm" bieten also viel mehr als eine Grass-Lesung. Sie sind ein reiches Angebot, auf verschiedenen Wegen in das 19. Jahrhundert zu reisen. Und dabei können wir erstaunt feststellen, wie die alten Märchen verblüffend lebendig werden. Vielleicht kann man so am Ende besser verstehen, was die Faszination von Günter Grass für die Grimms besser verstehen, wenn er einmal über das "Wörterbuch" etwas sagt, was auch für die Märchen gilt:

"So, über Wortbrücken, sind wir verbunden."

Und das wird in diesem Fall zu einer lustvollen akustischen Angelegenheit. Nicht nur für Philologen und Germanisten.

Besprochen von Hartwig Tegeler

Günter Grass: "Grass trifft Grimm"
Gesprochen von Günter Grass, Ulrike Hübschmann und Christian Brückner
GoyaLiT aus dem Hause JUMBO Neue Medien & Verlag GmbH, Hamburg 2012
4 CDs, 22,99 Euro
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