Frankreich sperrt die Ohren auf

Von Siegfried Forster |
Wie hören sich Mauern, Treppen, Pfeiler, Decken eines Jahrhunderte alten Klosters an? Wie klingt das Quartier Latin? Die Aktionswoche "La Semaine du Son", die derzeit in 40 französischen Städten läuft, will ein Bewusstsein schaffen für Töne und das Hören.
Musik: Nägel im Dachstuhl…

So hört sich der Dachstuhl einer mittelalterlichen Klosteranlage an. Vorausgesetzt, der Musiker ist mit Seil und Klettergeschirr ausgerüstet und bringt auf sieben Meter Höhe die Nägel des Dachgebälks zum Erklingen. Im Pariser Couvent des Cordeliers sangen bis zur Französischen Revolution Glaubensbrüder eines Bettelordens, die mit einer Kordel ihre weite Kutte zusammenschnürten, daher der Name Cordelier.

Heute bringt Klangkünstler Michel Risse Treppen, Mauerwerk und Pfeiler des Refektoriums zum Singen – mit Hilfe von Fingern, Bürsten, Geigenbogen, Sticks und hochempfindlichen Mikrofonen:

"Alle Orte haben ein Geheimnis. Bei meiner Ton-Suche bin ich auf die Nägel in den Deckenbalken gestoßen und ich habe mir gesagt: Wie klingen die denn? Nägel stellen normalerweise keinen großen Wert dar, doch dadurch erhalten sie einen. (…) Normalerweise komponiert man eine Musik und die Instrumente dienen dazu, diese Musik zu spielen. Das Instrument steht im Dienst der Musik. Hier komponieren wir eine Musik, die dafür da ist, dass wir das Instrument hören können."

Der Couvent des Cordeliers liegt im Herzen des legendären Quartier-Latin-Viertels. Touristen denken hier an die 68er-Barrikaden, an Studenten, Kneipen, Theater, den Jardin du Luxembourg und die Sorbonne-Universität. Musik-Ethnologe Michel de Lannoy erforschte abseits des Mythos die heutige sonore Kulisse und Kultur des Viertels, die "Klangschaft" - wie er es nennt. Was unterscheidet das Quartier Latin von anderen Vierteln?

"Ich habe Lust zu sagen, eigentlich nichts. Allerhöchstens, dass sich in diesem Viertel mehrere sehr unterschiedliche Ton-Ereignisse abspielen. Ich habe die Schritte eines Obdachlosen aufgenommen, die Kundengespräche in einer Apotheke, die Stille eines Klosters, Möwengeschrei, aber ist das wirklich typisch für dieses Quartier?"

"La Semaine du Son" - das sind Konzerte, Kolloquien, Workshops, Happenings und Vorträge in 40 französischen Städten. Die Themen reichen von der Musik, die immer lauter gespielt und gehört wird, über umweltfreundliche Geräusch-Konzeption von Elektrogeräten, vom Klangdesign bis zur Komposition von Tonlandschaften oder dem Beschwerde-Trend bei nachbarlicher Ruhestörung. Alice Debonnet-Lambert ist Direktor des Lärm-Informations-Zentrums (CIDB):

"Es gibt eine Hitparade: Am meisten stören die Schritte des anderen. Weil die Häuser hier nicht so gut isoliert sind ... Aber inzwischen beschweren sich die Leute auch über Dinge, die vor 30 Jahren noch kein Thema waren: über Kinder. Über Babys, die weinen, weil sie ihre Zähne bekommen oder wenn sie spielen. Über Leute, die Musik machen. Es gibt bereits eine Petition von Musiklehrern, die davor warnen, dass sie bald keinen Klavierunterricht mehr geben können, weil die Intoleranz der Nachbarn ständig zunimmt. Geräusche, die früher als normal galten."

Die Aktionswoche schärft das Bewusstsein für die Hörwelt. Und das in einem Land, in dem die visuellen Künste dominieren: vom Kino bis zur Mode. Der größte Wunsch von "Semaine-du-Son"-Gründer Christian Hugonnet: Die Leute sollen begreifen, dass der Ton nicht nur die Musik macht, sondern oft auch die Bilder schafft.

"Wir sind eher visuelle Menschen. Innerhalb der Romantik haben sich die Franzosen beispielsweise sehr für die Malerei und die Literatur interessiert. Während in Deutschland, in Nordeuropa und in den USA die Musik eine große Rolle gespielt hat. Es gibt Leute, die ihr gesamtes Leben durchschreiten, ohne jemals wirklich gehört zu haben. In Frankreich heißt es etwa: Ich SEHE, was Sie mir sagen wollen."

Pate des weltweit einmaligen Kulturereignisses à la française ist ein Komponist aus Kanada, der international renommierte Klangkünstler und Ton-Theoretiker Murray Schafer. Dem Autor von Standardwerken wie "Die Schule des Hörens" oder der wissenschaftlichen Analyse von "Tonlandschaften" ist im Pariser "soundscape" vor allem eines aufgefallen:

"Paris ist eine relativ lärmende Stadt. Einmal zählten wir, wie oft innerhalb einer Stunde eine Autohupe zu hören war. 265 Mal. Das war mehr als in den meisten deutschen und kanadischen Städten. Das verschafft Ihnen eine Vorstellung davon, dass Paris relativ freizügig mit Autohupen umgeht."