Frankreich

Denkmälern neues Leben einhauchen

Von Bettina Kaps · 04.12.2013
Er ließ die erste beheizte Toilette von Paris rekonstruieren: Regelmäßig macht Rémi Rivière sich auf die Suche nach den vergessenen Baudenkmälern der Stadt und öffnet sie für ein erfreutes Publikum.
Üppige Ranken aus hellem Kalkstein, Furcht einflößende Wasserspeier, Schimären und Heiligenfiguren. Remi Rivière steht am Fuß der Tour Saint-Jacques und vertröstet Neugierige: Die Führungen des Tages sind komplett ausgebucht. Der Andrang ist so groß, weil der 500 Jahre alte Turm jetzt erstmals öffentlich zugänglich ist, wenn auch nur für begrenzte Zeit. Das hat Rivière durchgesetzt.
Rémi Rivière:"Wenn es allein nach dem Publikum ginge, hätten wir längst gewonnen und könnten den Turm dauerhaft zeigen. Mein Verein und ich haben 4.000 Besucher hinauf geführt. Viermal so viele wären interessiert gewesen. Einigen älteren Parisern sind oben auf der Plattform sogar Tränen gekommen. Sie haben mir gesagt: 'Wenn Sie wüssten, wie froh wir sind! Wir hatten nicht geglaubt, dass wir jemals auf den Turm hinaufsteigen könnten.' Wir liegen also goldrichtig. Aber für die Stadtverwaltung ist das kein Argument."
Vor 13 Jahren hat Rivière sein Anliegen erstmals im Pariser Rathaus vorgetragen. Dann wurde das Denkmal teuer restauriert – und stand weiter leer. Jetzt endlich erzielte er einen ersten Erfolg: In einem Testlauf darf er den Turm nun an zehn Wochenenden zeigen.
Der 57-Jährige zieht einen schweren Schlüsselbund aus der Tasche, sperrt die Holztür auf, lässt die Besucher ins Treppenhaus. Es sind viele ältere Menschen dabei. Er ermutigt sie.
"Wir werden die 300 Stufen nicht auf einmal hochklettern. Nach 50 Stufen zeige ich Ihnen das erste Zwischengeschoss, nach 70 Stufen das zweite, und dann steigen wir zur Aussichtsterrasse hoch."
"Vergessene Denkmäler" zeigen
Mit Strohhut, weißem T-Shirt und heller Sommerhose sieht der schlanke Mann selbst wie ein Urlauber aus. Aber eine Freizeitbeschäftigung ist seine Tätigkeit nicht. Rivière hat es sich zum Beruf gemacht, leer stehende Baudenkmäler aufzuspüren und die Verantwortlichen zu bearbeiten, bis sie ihm deren Verwaltung anvertrauen.
"Ich nenne sie 'vergessene Denkmäler'. Viele sind interessant. Es lohnt sich, sie zu zeigen. Ich bin überzeugt, dass einige sogar zum finanziellen Gleichgewicht kommen können."
Eine Art Schatzsuche, die besser zu ihm passt als das Graben nach antiken Fundstücken. Rivière erinnert sich, wie er als Kind mit seinen Eltern Ausgrabungsstätten besuchte. Dabei träumte er von Schliemann und der Entdeckung Trojas. Deshalb studierte er Archäologie an der Sorbonne. Das war ein kompletter Fehler, sagt er nüchtern. Schon die ersten Feldstudien machten ihm klar, dass er für die Plackerei des Archäologen keine Geduld besaß.
Stattdessen begeisterte er sich für Kulturgeschichte. Vor allem aber verspürte er einen starken Drang, seine Leidenschaft mitzuteilen. Als Student organisierte er bereits Ausstellungen, schrieb Kataloge. An seine erste Exposition erinnert er sich genau.
"Zwei Jahrhunderte Sportarchitektur in Paris. Ich hatte alle Sporthallen und Schwimmbäder der Stadt zusammengefasst."
Rivière machte sich einen Namen als Kulturvermittler. Eine Kultur-Agentur holte ihn sich bald als Projektchef. Dort entwickelte er Konzepte für Museen. Außerdem arbeitete er für mehrere französische Provinzstädte: Sie hatten Studien über ihr Kulturerbe bestellt. Als die Firma Pleite ging, wusste er, was zu tun war.
"Ich hatte gesehen, dass es in Frankreich enorm viel Kulturgut gibt, das überhaupt nicht genutzt wird: die 'vergessenen Denkmäler' eben. Meistens gehören sie einem öffentlichen Träger, dem es lieber wäre, wenn er das Gebäude nicht besäße. Was macht er damit? Nichts, weil es zu klein ist oder zu groß, nicht sicher genug. Es gibt tausend Gründe, um es nicht zu öffnen."
Wattebausche aus dem Nildelta
Genau so erging es der "tour Jean-sans-Peur": Im Jahr 1409 hatten die Herzöge von Burgund in Paris einen Palast erbaut, der nach ihrem Herrscher "Johann ohne Furcht" benannt ist. Nur der Wehrturm überdauerte, aber er war immer zugesperrt. Rivière überzeugte die Stadt Paris, ihm das Gebäude anzuvertrauen.
Seit 14 Jahren bieten er und sein Verein dort Führungen an. Mit gut verständlichen Erklärungen, sagt er nachdrücklich, das heißt auch: so wenig Jahreszahlen wie möglich. Rivière versteht sich als eine Art Geschichts-Erzähler. Einer, der Mauern zum Sprechen bringt, darauf ist er stolz. Um zu erklären, wie mächtig und kultiviert der Herzog Johann ohne Furcht war, setzt er gern bei der Latrine an.
"Lustig ist. sehen Sie, ich glaube dran! – Lustig ist, dass nicht nur der Turm, sondern auch die Latrine architektonischer Ausdruck ist für die Macht des Herzogs von Burgund. Ich gehe von dem aus, was man sieht, und erkläre dann, wer sich auf dieses Klo setzen durfte – so etwas fesselt die Zuhörer. Wir wissen sogar, dass sich der Herzog zum Abwischen Wattebausche vom Nildelta bringen ließ."
Die Latrine, immerhin das erste geheizte Klo von Paris, wurde auf sein Betreiben hin originalgetreu rekonstruiert, mit Leitungsrohren, die innerhalb des Mauerwerks verlaufen.
15.000 Besucher pro Jahr interessieren sich für den Turm mit der alten Wendeltreppe und dem imposanten Deckengewölbe in Form eines Eichenbaums. Die Eintrittspreise von 3 bis 8 Euro reichen knapp aus, um Rivière und einen Angestellten zu finanzieren. Auf Subventionen ist er nicht angewiesen, darauf ist er stolz. Dass er bei diesem Job kaum Wochenenden und Ferien hat, stört ihn nicht. Denn seine Frau macht mit, und Kinder hat er nicht.
"Dieses Leben gefällt mir. Ich bin ein Ladenbesitzer der Kultur. Davon werde ich nicht reich, aber es ist sehr erfreulich, denn das Publikum gibt mir seine Freude zurück. Mein Ziel ist es, tote Gebäude lebendig zu machen. Indem ich diese Denkmäler öffne, hauche ich ihnen Leben ein."