Frank Uekötter: "Der Deutsche Kanal"

Lehrstück über die alte BRD

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Cover von Frank Uekötter "Der Deutsche Kanal" vor Aquarell-Hintergrund
Der Historiker Frank Uekötter geht allen grauen Einzelheiten der politischen Prozesse und des behördlichen Handelns nach. © Franz Steiner / Deutschlandradio
Von Arno Orzessek · 16.03.2020
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Der Historiker Frank Uekötter widmet der Entstehung des Elbe-Seitenkanals eine detaillierte Geschichte. Er interessiert sich dabei vor allem für die Dysfunktionalitäten des politischen Systems der alten Bundesrepublik.
Kennen Sie den Elbe-Seitenkanal? Dann wohnen sie vermutlich an seinen Ufern oder sind ein ausgepichter Liebhaber hiesiger Wasserstraßen. Info für alle anderen: Der "Heide-Suez", so sein Kosename, ist 116 Kilometer lang und verbindet die Elbe mit dem Mittellandkanal. Kein gutes Thema für 330 Seiten Lektüre, meinen Sie? Von wegen! Die Geschichte des Bauwerks, 1976 zu den Klängen von Verdis Aida eröffnet, ist verwickelt, teils bizarr. Frank Uekötter erzählt sie indessen nicht um ihrer selbst willen, sondern um die "organisierte Verantwortungslosigkeit" im Labyrinth der staatlichen Institutionen und Zuständigkeiten aufzudecken.
Indem der Historiker allen grauen Einzelheiten der politischen Prozesse und des behördlichen Handelns nachgeht, wird sichtbar, wie das Unerhörte geschehen konnte: Dass ein Kanal gebaut wurde, den (damals) keiner brauchte; dass die Kosten explodierten, als sei es ein höheres Schicksal; dass nach fünf Wochen ein Damm brach und Millionen Kubikmeter Wasser ins Land sprudelten, jedoch kein Mensch zur Rechenschaft gezogen wurde; kurz: dass der Elbe-Seitenkanal ein "Fiasko mit Ansage" wurde, aber absolut niemand etwas Illegales getan hatte.

Parallelen zur Gegenwart

Wer an Stuttgart 21 oder den BER denkt und Parallelen zur Gegenwart ziehen will, den lädt Uekötter herzlich dazu ein. Er selbst stellt den Kanal in den Kontext großer Infrastrukturprojekte in den Industriestaaten und blickt in die europäische Kanalbau-Geschichte zurück. In erster Linie jedoch versteht er den Bau der "teuren Rinne" (Spiegel) als Lehrstück über die alte Bundesrepublik.
Die frühesten Kanalideen aus der Vor- und Nachkriegszeit drehten sich noch ganz um den Kohletransport. Zur treibenden Kraft des Projekts wurde Hamburg. Dem "Tor zur Welt" mit seinem großen Hafen fehlte eine Öffnung zum binnendeutschen Kanalsystem. Um weniger hanseatisch-selbstbezogen zu wirken, pries ein Baudirektor den Kanal durchs Zonenrandgebiet als "Vorleistung für die Zeit nach der Wiedervereinigung" an – drei Monate später baute die DDR die Mauer. Die Kanalwände wurden schließlich auch mit Blick auf die Rote Armee konzipiert: Von West nach Ost sollten Panzer durchkommen, umgekehrt nicht.

"Regelkonformes Versagen"

Deutsch-deutsche Geschichte, föderale Zänkereien, das Phantasma der Planbarkeit, das Ende des "Wirtschaftswunders" und der Anfang der Dauerkrise, der Sieg der Straße über Wasser und Schiene, das globale Regime der Container: Uekötter verknüpft den Kanalbau mit den Tendenzen des Zeitalters. Sein Stil ist dabei eindringlich und lässig, bisweilen amüsant. Das Fazit aber ist ernst: Hinter dem Debakel des Elbe-Seitenkanals stand "eine Form des regelkonformen Versagens", das durch "die gängigen Raster der gesellschaftlichen Skandalisierung fiel."
Im Übrigen zählt Uekötter den Kanal zu den "Mythen" der BRD im Sinne der Mythen des Alltags von Roland Barthes – ein theoretischer Überbau, der nicht voll überzeugt. Auch die Reflexionen zum Sinn und Nutzen von Zeitgeschichte sind länglich. Und die Überlegung, den Imperativ "Nie wieder Auschwitz" durch "Nie wieder Elbe-Seitenkanal" zu ergänzen, ist mindestens ein Fauxpas. Aufzuklären bleibt, warum der Kanal, einst als größter Fehler "seit dem Turmbau zu Babel" beschimpft, bei Google mittlerweile ordentliche Referenzen hat. Dennoch: Wenn Sie gern mit dem Buch in der Hand ins Unbekannte aufbrechen – lesen Sie "Der Deutsche Kanal"!

Frank Uekötter: "Der Deutsche Kanal. Eine Mythologie der alten Bundesrepublik"
Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2020
330 Seiten, 29 Euro

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