Frank Castorf inszeniert "Die Maßnahme" von Brecht und "Mauser" von Müller

20.03.2008
"Zum Lehrstück fällt mir nichts ein. Die christliche Endzeit der Maßnahme ist abgelaufen. Es sind einsame Texte, die auf die Geschichte warten", hat Heiner Müller 1977 in einem Brief an den BRD-Lehrstück-Forscher Rainer Steinweg geschrieben - ein Text, den Hermann Beyer mit Heiner-Müller Brille versehen, gleich zu Beginn des Abends, wenn ihn die jungen Genossen auffordern, mit seinem Tod einverstanden zu sein, zum Besten gibt.
Die "Maßnahme" und die spätere Übermalung davon, "Mauser", sind seltsame, missverständliche, aber zentrale Werke von Brecht und Müller, und große Literatur; doch bestenfalls in der von Brecht proklamierten Aufhebung des Gegensatzes von Zuschauer und Spieler hat die Lehrstücktheorie in kleinen theaterpädagogischen Gruppen überlebt.

"Die Maßnahme" war aber – bei ihrer Uraufführung 1930 im Großen Schauspielhaus – große Oper und Liturgie, ja geradezu Passionsstück: Das Einverständnis des jungen Genossen mit seinem Tod, die Auslöschung seiner Individualität für eine Utopie gemäß den heiligen Büchern der sozialistischen "Klassiker" nach verschiedenen Stationen der Prüfung der Geduld, des Stolzes usw. Wie bei einer Oper hat sich Frank Castorf nirgendwo vom Text Brechts und von der Partitur Hanns Eislers entfernt, kein Stückezertrümmerer also diesmal, sondern ein Archäologe. Er nützt dafür den großen Raum seines Theaterpanzerschiffs. Im sehr tiefen Orchestergraben die Musiker, vor allem Blech, auf den Rängen der "Chor der Werktätigen der Volksbühne"; auf der Bühne, auf der auch einige Zuschauer Platz nehmen müssen, ein riesiger Brechtscher Holzsteg, der abgestützt von einem Holzbalkengewirr, bis weit in den Zuschauerraum reicht (Bühne: Thiago Bortolezzo), schließlich Live-Videoeinspielungen, die auch Foyer und den Rosa-Luxemburg-Platz vor dem Theater einbeziehen; dazu ein Schauspielerquintett mit wechselnden Rollen (besonders lustvoll agierend: Jeanette Spassova) und – leider musikalisch nicht ganz befriedigend – ein Sängerinnenduo im geschlitzten Abendkleid.

Auf die große Passionsmesse folgt genau nach der Hälfte des Abends die Talkshow-Beichte Heiner Müllers Übermalung "Mauser", ein kurzer Text mit liturgischen Gebetswiederholungen ("wissend, das tägliches Brot der Revolution ist der Tod ihrer Feinde"). Der junge Genosse ist nun der alte Heiner Müller beziehungsweise die DDR-Schauspiellegende Hermann Beyer, der im Kreis seiner Jünger wie Christus zum Tod verurteilt wird: "der Soldat der Revolution" – und als "Kämpfer in den Schlachten" des 20. Jahrhunderts hat sich Heiner Müller ja immer – auch noch nach der Wiedervereinigung - verstanden. Dazwischen Choreographien von Meg Stuart, die den Text ein wenig auffetten: Sind die Tänzer die "Schläfer", die wie die jungen Genossen von damals bereits bereit sind für den Terror der Endzeit-Revolution? Die Balletteinlagen machen aber allerdings eher nur zeitökonomisch im dreistündigen Abend Sinn.

Brecht wird ja oft unterstellt, er wäre pädagogisch und rege uns denkfaule Theatergenießer intellektuell an: Der Zuschauer solle nach der Vorstellung abwägen, ob das Auslöschen der Individualität des Genossen und seiner Ideale politisch legitimierbar (verständlich in der deutschen Bürgerkriegssituation 1930) oder Beispiel für einen menschenverachtenden Stalinismus sei, der Zuschauer solle also am besten nach der Vorstellung einen dialektischen Deutschaufsatz schreiben. Zum Glück hat sich die Castorfsche Aufführung solchen Pädagogisierungen entzogen, sondern die "Maßnahme" als großes theatralisches Ritual – ohne nostalgische Sentimentalität - äußerst werkgetreu überprüft.

Frank Castorf: "Die Maßnahme" von Brecht, "Mauser" von Müller
Volksbühne Berlin