Foucault über Sexualität

Eine Befreiung für queere Menschen

Michel Foucault (1926-1984) blickt in Richtung der Kamera auf einer Aufnahme von ca. 1982.
Wie Sexualität sich im Zusammenwirken von Wissen und Macht als Erfahrung des Innen, der Innerlichkeit und der Wahrheit des Selbst herausbildet, darüber las Sabine Hark bei Michel Foucault. © imago / Leemage / Mario Dondero
Gedanken von Sabine Hark · 08.07.2022
Irrelevant, zu elitär, verantwortlich für den Niedergang der Vernunft - der Philosoph Foucault steht heute oft in der Kritik. Die Soziologin Sabine Hark jedoch verdankt ihm viel. Wie Sexualität, Wahrheit und Macht verknüpft sind, lernte sie von ihm.
„Hätte Foucault nicht gelebt, man müsste ihn erfinden – als beliebig einsetzbare Sockenpuppe der ‚besorgten‘ Gesellschaftskritik.“ So kommentierte jüngst jemand auf Twitter eine der ungezählten Volten gegen den französischen Philosophen.
Mal wird er philosophisch schlicht für irrelevant erklärt oder als zu elitär abgetan, ein anderes Mal zu Unrecht der Pädophilie bezichtigt. Wieder andere machen ihn verantwortlich für den Niedergang der Vernunft, des Abendlandes, der Demokratie und den Aufstieg autoritärer Populismen.
Nicht viel anders als bald 40 Jahre zuvor, dachte ich, als ich den Tweet las. Jürgen Habermas hatte Foucault damals vernichtend kritisiert. Sein Werk sei normativ beliebig und selbstbezüglich; er überschätze die Macht und unterschätze die Wahrheit.

Durch Zufall auf Foucault gestoßen

Das war ungefähr zu der Zeit, als der Autor Foucault in mein Leben trat. Eher zufällig war ich in der Buchhandlung auf einen schmalen Band mit dem Titel „Sexualität und Wahrheit I. Der Wille zum Wissen“ gestoßen. Foucault war wenige Monate zuvor in Paris an den Folgen von Aids verstorben. Der französische Philosoph war nicht einmal 60 Jahre alt geworden.
Davon wusste ich nichts. Foucault, dessen Bücher die Welt verändert haben, war für mich damals ein Unbekannter. Doch ich ahnte, dass ich in diesem Buch die Fragen und vielleicht sogar Antworten finden würde, nach denen ich auf der Suche war.
Mein eigenes Coming-out lag noch nicht lange zurück. Erklären zu müssen, wer ich bin, hatte ich als befreiend empfunden und doch auch den Zwang gespürt, der damit verbunden war. Dabei hatte ich im katholischen Kommunionsunterricht schon erfahren, dass Sexualität und Wahrheit auf eine Weise verknüpft sind, die mit Macht zu tun hat. Die Aufforderung, mich in der Beichte zu etwas bekennen zu sollen, hatte ich jedenfalls schon damals als Zumutung empfunden.

Verknüpfung von Sexualität, Wahrheit und Macht

Foucault hatte genau auf diese Verknüpfung von Sexualität, Wahrheit und Macht sein Augenmerk gerichtet: wie Sexualität sich im Zusammenwirken von Wissen und Macht als Erfahrung des Innen, der Innerlichkeit und der Wahrheit des Selbst herausbildet. Minutiös legt er dar, wie sie sich in den religiösen Institutionen, in den pädagogischen Maßnahmen, in den medizinischen Praktiken, in den Familienstrukturen formiert.
Er zeigt die Zwangsmechanismen auf, mit denen die Individuen davon überzeugt werden sollen, sie hätten in sich selber die geheime und gefährliche Kraft einer „Sexualität“ zu entdecken, die sie dann bekennen sollen.
Foucault dachte „Sexualität“ also als Effekt einer spezifischen Verknüpfung von Macht, Wissen und Sein. Ein Gedanke, der damals für mich und viele andere neu, aufregend und das Denken freisetzend war. Denn er erlaubte uns, zu verstehen, dass wir zwar alle begehren, zu sexuellen Subjekten aber erst gemacht werden.
Wir kommen nicht als homo-, hetero-, bi- oder asexuelle Wesen zur Welt, wir werden es. Ganz so hat Simone de Beauvoir es im Übrigen für Weiblichkeit beschrieben: Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.
Foucault hat uns damit nicht nur zu verstehen gegeben, welche Macht im Wissenwollen steckt, wir können mit seinen Werkzeugen das Wissen selbst verstehen. Und zwar als die Kraft, die die Grenzen bestimmt, innerhalb derer wir begriffen werden und uns selbst begreifen können.
Er hat uns aber auch die Tür zu einer Welt der Freiheit geöffnet. Eine Welt, in der es möglich ist, an diesen Grenzen zu arbeiten, um sie zu überschreiten. Hätte Foucault nicht gelebt, man hätte ihn genau dafür erfinden müssen.

Sabine Hark, Soziolog_in, hat seit 2009 eine Professur für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der TU Berlin inne. Hark ist Mitherausgeber_in der Zeitschrift Feministische Studien. Aktuelle Publikation: Gemeinschaft der Ungewählten. Umrisse eines politischen Ethos der Kohabitation, Berlin: Suhrkamp 2021.

Porträt von Sabine Hark mit grauen kurzen Haaren und schwarzer Brille
© Privat

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