Fotografische Langzeitbeobachtungen

Von Michaela Gericke |
Seit 1994 vergibt die Wüstenrot Stiftung im Turnus von zwei Jahren den Förderpreis Dokumentarfotografie an junge Absolventen deutscher Fotoschulen oder Akademien. Die ausgewählten Fotografen können somit ein Jahr lang ein Fotoprojekt realisieren. Jetzt präsentiert das Museum für Fotografie in Berlin einen Querschnitt der Preisträger der letzten zehn Jahre.
Rings um die Handfläche einer jungen Frau tanzen Seifenblasen. Ein Finger der Hand berührt sacht eine der schillernden Kugeln. Das blassfarbene Foto gehört zur Serie "Lena Engel - Vom Hinfallen und Wieder Aufstehen". Lena - das ist die junge übergewichtige Frau, der sich Sibylle Fendt in ihrem Langzeitprojekt mit der Kamera genähert hat. Die Absolventin der Fachhochschule Bielefeld porträtiert in behutsamer Weise die 19-Jährige und ihre Sehnsucht, sich selbst zu mögen.

Auf einem Foto sitzt sie wie eine Prinzessin in ihrem Zimmer - ihren Körper hat sie in wallende, bunte Stoffe gehüllt. Ein weiteres Foto zeigt sie sehr hellhäutig in schwarzem Badeanzug. Auf dem Rücken krault sie durch tief-dunkles Wasser und entspricht mit ihrem massiven Körper keineswegs dem Bild einer sportlichen Schwimmerin. Dennoch spürt man, dass sie sich in diesen Momenten leicht, fast schwerelos und vor allem: wohl fühlt.

Sibylle Fendt hatte bereits in psychosomatischen Kliniken Patienten mit Essstörungen fotografiert, bevor sie sich bei der Wüstenrot Stiftung für ihre dokumentarische Fotoarbeit mit Lena Engel bewarb.

"Ich hab ein grundsätzliches Interesse an der Wirklichkeit, oder was zu erfahren über unsere Gesellschaft, versuch aber, meine persönliche Sichtweise mit einzubringen und vielleicht durch so 'ne unerwartete Bildsprache auch wieder Menschen, die dafür kein Interesse haben, wieder solche Problematiken nahe zu bringen."

Über zwei Jahre hat sich Sibylle Fendt mit Lena Engel beschäftigt, zog sogar eine Weile in ihre Nähe. Die Fotos entstanden in Absprache mit ihrem Modell. Das heißt, sie hat nicht einfach im Reportagestil fotografiert, sondern ihre Bilder künstlerisch inszeniert. Was durchaus erlaubt ist, wie Ute Eskildsen zu verstehen gibt. Sie ist Leiterin der Fotografischen Sammlung im Folkwangmuseum und von Beginn an Jury-Mitglied der Wüstenrotstiftung:

"Es geht der Wüstenrot Stiftung um einen sehr offenen Begriff des Dokumentarischen, d.h. dass es nicht darum geht, an diesem Glauben festzuhalten, dass es eine objektivierende Fotografie gibt, also 1:1, das was ich aufnehme, ist dann auch ein Abbild dessen, was ich gesehen habe, sondern, dass wir gelernt haben, dass im Grunde seit Beginn der Fotografie es immer auch darum ging, um die Person, die hinter der Kamera steht."

Es geht also immer um einen subjektiven Ausschnitt von Wirklichkeit. Um eine sehr persönliche Spurensuche in Landschaften, Architektur und Bildern von Menschen.

Albrecht Tübke von der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig wollte 1997/98 mit seinen Porträts von Leipziger Jugendlichen keineswegs Vertreter politischer Strömungen dokumentieren, sondern schlicht junge Leute vorstellen. Er traf sie auf leeren Straßen und Plätzen: Ernst schauen sie in die Kamera, Hände verschwinden in zu langen Ärmeln oder in weiten Sweatshirts, Körperhaltungen verraten kaum etwas wie Selbstvertrauen und Zuversicht, und in den Gesichtern sind eher Ratlosigkeit und Skepsis erkennbar.

Christian von Steffelin fotografierte im gleichen Jahrgang den Palast der Republik von außen wie von innen und stellte seinen Bildern Fotos aus den 70er Jahren gegenüber, als Restaurantbesucher unter den vielen Kugellampen saßen und vor den Fenstern die Flagge der DDR wehte. Grotesk und beinah unwirklich, virtuell wirken Steffelins Fotos von verlassenen Konferenzräumen mit akkurat aufgestellten Sesseln und Stühlen - und doch sind dies Dokumente eines Bauwerks, das es bald nicht mehr geben wird.

Ludger Derenthal, dem Leiter des Museums für Fotografie in Berlin, ist es zu verdanken, dass die Arbeiten der jungen Fotografen nun als Retrospektive aus den vergangenen zehn Jahren in einem angemessenen Rahmen präsentiert werden. Sie reichen von der klassischen Schwarz-Weiß-Fotografie bis zum monumentalen Farbbild, in dem vor allem der Fotograf als freier Künstler zu erkennen ist.

Die Bilder an den weißen Wänden des Ausstellungsraums lassen den Besucher mitreisen. Zu verlassenen ehemaligen deutsch-deutschen Grenzstreifen, wie Chris Durham sie aufgenommen hat in seiner Serie "Die Narbe Deutschlands"; nach Lateinamerika mit Kalle Singer, nach Singapur mit Nicola Meitzners Schwarz Weiß-Dia-Projektion; nach Sibirien mit Wolfgang Müller, einem der aktuellen Förderpreisträger.

"Ich bin durch das südliche Sibirien gefahren für drei Monate und hab mir dort dann bestimmte Punkte rausgesucht. Was man hier sieht, ist Universum Jugend - und das hat mich auch dort am meisten interessiert, jenseits von dem, was man von Klaus Bednarz aus dem Fernsehen kennt, ewige Weite ... ist das eher ein urbanes, großstädtisches Sibirien."

Wolfgang Müller wird weiter reisen - demnächst nach China. Er gehört inzwischen zur Fotoagentur Ostkreuz. Und wird weiter fotografieren, wie die meisten anderen der Förderpreisträger. Ute Eskildsen ist froh über den Förderpreis der Wüstenrotstiftung, der es jungen Absolventen möglich macht, sich Zeit zu nehmen, um den eigenen Stil zu entdecken und zu vertiefen. Das war gerade vor zehn Jahren keineswegs selbstverständlich, sagt die Leiterin der fotografischen Sammlung im Essener Folkwang-Museum.

Ute Elskildsen: "Als die Stiftung den Preis initiierte, hatten wir eine Situation, in der sowohl im bildjournalistischen als auch im publizistischen Bereich kaum mehr Langzeitprojekte finanziert wurden, d.h. die Aufgaben, Aufträge für Dokumentarfotografen in der Publizistik, die waren sehr begrenzt und es wurden mehr und mehr Geschichten aus den Archiven zusammengestellt und im Kunstbereich war eigentlich diese dokumentarische Arbeitsweise noch nicht etabliert als ein Förderprogramm."

Museum für Fotografie: "Zeit Raum Bild"