Fotografische Blicke auf die Wirklichkeit

Von Michaela Gericke · 24.09.2007
Drei Städte am Rhein Neckar- Dreieck: Mannheim, Ludwigshafen, Heidelberg wollen als Metropolenregion auftrumpfen und leisten sich deshalb zum zweiten Mal ein Fotofestival an acht Ausstellungsorten. Kurator Christoph Tannert hat über 80 Künstler aus 30 Ländern eingeladen, ihre Sicht auf die Welt zu zeigen.
"'Reality Crossings' meint die Überkreuzung von diversen Blicken auf Wirklichkeit - das, was zwischen Ich und außen passiert, was der Besucher wahrnehmen kann, gleichzeitig aber auch die verschiedenen Perspektiven auf Wirklichkeit, die von Künstlern, die mit dem Fotoapparat oder der Video-Kamera unterwegs sind ..."

Nicht um Schönheit geht es Christoph Tannert, sondern um Wahrheit. Wahrheit, die den Betrachter irritiert, provoziert, bisweilen schockiert. Im zentralen Saal der Kunsthalle Mannheim kleben an einer Wand große Farbfotos von Ali Kepenek. Er wurde 1968 in der Türkei geboren, lebt in London und Berlin und dokumentiert in einer Art Bilder-Geschichte das Leben von Schwulen und transsexuellen Prostituierten in Istanbul.

Gleich gegenüber offenbaren die großformatigen Fotografien von Lina Kim und Michael Wesely Landschaften der besonderen Art: "Deutschland" heißt das Projekt der zwei Fotokünstler - sie in Sao Paolo geboren, er in München: Wie impressionistische Gemälde wirken die Aufnahmen aus dem südlichen Brandenburg, über 2 Meter mal 3,50m groß sind sie, auf Leinen gedruckt und doch von Idylle weit entfernt: Da um- und überwuchern lichte Birken unter strahlend blauem Himmel die Ruinen der ehemaligen Sowjet-Kasernen. Eine Stimmung zwischen Erinnerung an Geschichte der DDR und Frühlingserwachen und zugleich ein Zeugnis für die prägnante "Handschrift" des Kurators Christoph Tannert:

"Ich hab ja vieles, was hier vielleicht nicht bekannt war, in die Ausstellung gebracht, Fotos von Harald Hauswald, der in der Subkultur in Ostberlin seit den 70er Jahren offensiv fotografiert hat oder auch Lina Kim oder Michael Wesely, - es gibt immer wieder dieses Aufblitzen auch von DDR-Vergangenheit oder dem, was im Osten Deutschlands damit zusammenhängt, das ist, was mich an meine Biografie bindet und auf der andern Seite ist es der gegen Übereinkünfte andenkende oder anfragende Blick, etwas was mich interessiert, diese Form von Aufklärung, von Tieferbohren."

Eindeutig politisch zeigt sich Christoph Tannert in der Auswahl seiner 82, wie er es nennt: "Künstlerpositionen": Eine überdimensionale Installation aus Bild und Ton im Bunker der Kunsthalle gehört dazu, mit Zeugnissen des Gebarens amerikanischer Eroberer im Irak; in einem kleinen Schaukasten anonyme Fotografien über Gefängnisse in China; ebenfalls aus China kommen die beeindruckenden Schwarz-Weiß-Fotos über die dreckige und gefährliche Arbeit der Grubenarbeiter, zu denen oft Kinder gehören.

Kinder sind auch in der Serie von Thilo Thielke zu sehen: Der Journalist und Spiegel-Korrespondent hat sich auf die abenteuerliche Reise ins Kriegsgebiet des Süd-Sudan begeben: Da stehen eine Frau und Kinder orientierungslos in einem Dorf, das kurz zuvor noch Obdach für sie bot.

Thilo Thielke: "Diese Frau ist in diesen Ort geflüchtet, Kur A beche - da haben angeblich vor dem Überfall 20.000 Leute gelebt, wovon mindestens 10.000 Flüchtlinge waren - das heißt die Gegend, in die diese Frau kam, die ist vernichtet, zerstört worden, ihr Mann wurde zuvor ermordet. sie ist in diesen Ort geflüchtet und dann ist ausgerechnet dieser Ort überfallen worden."

Obwohl Thielke kein ausgebildeter Fotograf ist, berühren die meisten seiner Bilder: Das Porträt eines Jungen aus Darfur bleibt unweigerlich im Gedächtnis: Sein Gesicht ist zum Teil von einer Kalaschnikow verdeckt, seine Augen sind rot, Mund und Stirn zeigen endlose Traurigkeit und Verzweiflung: Der Junge ist vielleicht elf Jahre alt und Kindersoldat. Er hat sich den Rebellen angeschlossen, weil seine Eltern getötet wurden.

Völkermord und Flucht thematisiert auch Silvina Der-Meguerditchian. Ihre armenischen Großeltern flüchteten vor dem Genozid 1915 aus der Türkei nach Syrien, sie selbst wurde in Buenos Aires geboren und lebt jetzt in Berlin. Im Wilhelm Haack Museum Ludwigshafen ist ihr Foto- und Videoprojekt zu sehen: Silvina Der-Mergueditchian ist den Weg vom Grenzgebiet der Türkei nach Aleppo in Syrien gefahren, hat sowohl auf der türkischen Seite, als auch auf der syrischen nach Spuren ihrer armenischen Vorfahren gesucht. Historische Fotos mit armenischen Musikern, aber auch mit Kinderscharen vor einem Waisenhaus stellt sie ihren aktuellen gegenüber. Während die Künstlerin in der türkischen Grenzstadt keinerlei armenische Schriftzeichen mehr in den Straßen fand, erzählen in Aleppo zahlreiche Schilder an Hausfassaden von der am Leben erhaltenen armenischen Kultur.

"Reality crossings" - das Motto des Fotofestivals bezieht Kurator Christoph Tannert auch auf die Realitäten der zeitgenössischen Künstler. Er lässt die Grenzen zwischen Fotografie und anderen Medien schwinden und provoziert so manchen Liebhaber der klassischen Fotografie. In Ludwigshafen präsentiert der Kunstverein ein vermittelndes Beispiel: "Play" heißt das Langzeitprojekt des Niederländers Carel van Hees: In einem großen abgedunkelten Raum lässt er Fotografie, Film und Musik von fünf überdimensionalen Projektionswänden auf den Besucher wirken.
Zu sehen sind in grobkörnigem Schwarz-Weiß junge Menschen aus über hundert Kulturen: Auf der Straße, zu Hause, in Bars oder Discos, geschminkt, gestylt, fröhlich, traurig, selbstbewusst oder auch melancholisch. Sie tanzen, skaten, boxen, messen ihre Kräfte, erkunden ihre Körper. Carel van Hees, heute 53 Jahre alt, wollte dem Gefühl seiner eigenen Jugend noch einmal nachgehen:

"Ich habe versucht, diesen Teil des Lebens zu zeigen, den jede Generation, überall auf der Welt kennt. Ich habe nach Empfindungen gesucht wie Aggression, Liebe, Kraftlosigkeit. Sich und andere suchen, versuchen irgendwas anzustellen. Ich hoffe, ich vermittle mit meinem Projekt etwas über dieses Gefühl, wie es ist jung zu sein - egal wie alt der Betrachter ist."

Carl van Hees - ein Vermittler zwischen Kulturen, Zeiten und Welten. Stellvertretend für das Motto: Reality Crossings. Mit Bildern, die schonungslos, demaskierend, suchend vom Leben der Menschen hier und heute erzählen.

Gesichter, Körper, Städte und Landschaften sind zu sehen. Hieße der Kurator des Fotofestivals in Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg nicht Christoph Tannert, wäre es vielleicht harmloser: Nicht um Erhabenes, Edles, dekorative Ästhetik geht es ihm, sondern um Realität.