Fotografie als Metasprache

Von Siegfried Forster |
Er gehört zu den Großen seines Fachs. Rechtzeitig zu seinem 25. Todestag wird André Kertész zum ersten Mal in Europa eine umfassende Retrospektive seiner Fotografien gewidmet. Ungarn, Paris, New York umschreiben seine drei Lebensabschnitte und drei Künstlerepochen.
Für das Jeu de Paume liegt Kertész' Wahrheit auch in der Form. Die Räume sind in ein mysteriöses Halbdunkel getaucht. In den ersten Sälen hängen Originalabzüge aus der ungarischen Epoche, 1912 - 25. Jeder Besucher darf Kertész buchstäblich unter die Lupe nehmen und erhält ein Vergrößerungsglas für die vier mal sechs Zentimeter kleinen Kontaktabzüge, die bislang noch nie jemand öffentlich sehen durfte. Hier feiern keine Bilder Auferstehung, sondern eine ganze fotografische Epoche, bemerkt Kurator Michel Frizot:

"Natürlich verändern solche Formate den Blick. Wir haben das Material der damaligen Zeit vor uns, wie es auch Kertész vor Augen hatte."

Kertész wurde 91 Jahre alt, und über 70 Jahre davon hat er ohne Unterlass fotografiert: zuerst in Ungarn, dann ab 1925 am damaligen Nabel der Kunstwelt Paris und ab 1936 - mit einem Vertrag für ein Jahr in der Tasche - schließlich 50 Jahre lang in New York City. Kertész hat sich dabei nie wiederholt und forschte in unglaublich vielen Richtungen: Die ersten Zerrbilder von nackten Frauenkörpern oder einfachen Gabeln, das war er. Die ersten Fotoreportagen, in denen die Bilder den Text dirigieren, das war er. Die ersten Pariser Nachtaufnahmen, die aussehen wie erstklassige Brassaï-Kopien mit ihren Straßenlaternen, Treppengeländern und Schatten von dürren Ästen, auch das war er, 1927 ... und nicht sein ungarischer Landsmann.

"Das ist eine schmerzhafte Frage im Verhältnis zwischen Kertész und Brassaï. Kertész hat Brassaï das Fotografieren beigebracht. Kertész hatte bereits in Ungarn Nachtaufnahmen gemacht, während dies erst ab den 30er-Jahren eine Spezialität von Brassaï werden sollte."

"So etwas hatte es bis dahin noch nie gegeben" ist der Lieblingsausspruch von Kuratorin Annie-Laure Wanaverlbecq, die gemeinsam mit ihrem Kollegen seit vier Jahren dem Showdown zwischen Kertész-Image und Kertész-Wahrheit im Jeu de Paume entgegenfieberte. Ergebnis: Die Ausstellung lässt sich die notwendige Zeit und nimmt sich die entsprechende Zahl an Bildern, um die unglaubliche Komplexität von Kertész' Jahrhundertwerk sichtbar zu machen. Denn sein Oeuvre ist unverwechselbar, und gleichzeitig gibt es keinen Kertész-Stil, bekräftigt Michel Frizot:

"Er ist jemand, der ständig seinen Stil ändert, und trotzdem behält er seine sehr persönliche Herangehensweise bei. Den Stil von Henri Cartier-Bresson erkennen Sie beispielsweise sofort. Bei einer Fotografie von Kertész ist es praktisch unmöglich, einen Kertész-Stil auszumachen."

1912, im Alter von 18 Jahren, bekommt Kertész seinen ersten Fotoapparat geschenkt und fabriziert ohne Umschweife sein erstes experimentelles Bild: "garçon endormi" zeigt einen jungen Mann, der im Kaffeehaus über seiner Zeitung eingeschlafen ist. 1917 porträtiert er seinen Bruder als "Schwimmer unter Wasser". Der Auftakt für seine späteren berühmten Zerrbilder. Für die Kunsthistorikerin Annie-Laure Wanaverbecq schlichtweg genial:

"Das ist ein Foto ohne eigentliches Thema. Ein Nichtthema-Bild. Die Leute haben ihn aufgezogen und gefragt, was er denn da eigentlich fotografiert. Er hatte damals bereits eine Sensibilität für einen Körper, der unter Wasser gebrochen wird, aber sichtbar bleibt, für etwas vollkommen Vergängliches, das nur einen Moment lang existiert."

Ungarn, Paris, New York, drei Lebensabschnitte, drei Künstlerepochen. Kertész sprach miserabel Deutsch, schlecht Französisch und very bad Englisch. Doch dem absoluten Fan von Fotoapparaten blieb die Fotografie als Metasprache, die er auch in technischer Hinsicht perfekt beherrschte. In seiner weltberühmten Ikone "Satiric dancer" nimmt eine Tänzerin mit nackten Armen und Beinen auf einem Sofa die Pose der danebenstehenden Skulptur ein, im Hintergrund prangen Gemälde. Kertész vereint mit einem Klick die Bildersprache der Fotografie mit Bildhauerei, Malerei und Abstraktion.

"Die bruchstückhafte Wahrnehmung seines Werks hat oft zu übertriebenen Interpretationen geführt. Man hat ihn etwa oft dem Surrealismus zugeordnet, obwohl er sich nicht zugehörig fühlte. Kertész hatte sich immer gegen jegliche Form von Vereinnahmung gewehrt."

Aus finanziellen Gründen ging er 1936 in die USA, doch dort galt er während des Zweiten Weltkriegs mit seiner ungarischen Staatsangehörigkeit als Staatsfeind. Danach musste er sich mit Auftragsarbeiten über Häuser und Gärten Prominenter finanziell über Wasser halten und begrüßte jeden mit der Formel: "Ich hasse Amerikaner". Bis zu seinem Tod blieb er im Land des Konsumrauschs der ewige Außenseiter, der sich als Wolke symbolisierte und New York fotografierte wie keiner vor ihm: während Bill Brandt, Paul Strand oder Yves Klein erfolgreich den Mythos New York bedienten, faszinierten Kertész Kamine, Uhren, Feuertreppen. Deprimiert fotografierte er die letzten Jahre nur noch vom 12. Stock seines New Yorker Appartements aus.

"Kertész ist keine einfach zu verstehende Person. Seine Fotografie ist äußerst geistiger Natur. Deshalb ist diese große Zahl an Bildern hier in der Ausstellung notwendig, um ihm gerecht zu werden."

Kertész, ein Gigant der Fotografie des 20. Jahrhunderts. Aber vor dem 21. Jahrhundert hat seine Kunst haltgemacht, bemerkt Kurator Michel Frizot:

"Er ist wirklich ein Fotograf des 20. Jahrhunderts. Er hatte viel Einfluss zu Lebzeiten, aber ich glaube nicht, dass die zeitgenössische Fotografie von ihm inspiriert wird."