Fotograf Rimaldas Viksraitis

Dokumente extremer Armut und puren Glücks

Eine analoge Spiegelreflexkamera Minolta SRT 101b von 1975
Rimaldas Viksraitis hält das Alltagsleben fest: Immer mittels klassisch-analoger Schwarz-Weiß-Fotografie. © imago / Revierfoto
Von Ludger Fittkau |
Kraftvoll-anrührende Sozialreportagen: Mit "Am Rande der bekannten Welt" wird in Mannheim die bisher größte Werkschau von Rimaldas Viksraitis gezeigt. Der Fotograf dokumentiert auf atemberaubende Weise seit den 1970-ern den Alltag im ländlichen Litauen.
Harte Arbeit auf dem Land, Schweineschlachtung unter freiem Himmel, Alkoholexzesse in oft armseligen Bauernstuben. Sex, der wohl nicht immer glücklich macht. Oder doch? Es sind alltägliche Ereignisse aus dem ländlichen Litauen vor allem der 70er- und 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts, die der litauische Fotograf Rimaldas Viksraitis festgehalten hat.

Atemberaubende Dokumente des Alltags

Wie der von Kindheit an sprachbehinderte Fotokünstler das Landleben in seinem Heimatland dokumentiert, ist atemberaubend: Die Menschen, die er in ihrem Alltag fotografiert, schenken ihm tatsächlich so viel Vertrauen, dass er mit der Kamera so nah an sie herankommt, wie man es bisher selten gesehen hat:
"Ich versuche immer, die Beziehungen zu allen Fotografierten langfristig zu entwickeln. Ich bemühe mich auch, diese Beziehungen so lange wie möglich zu pflegen. All die Menschen, die ich ablichte, kenne ich in der Regel sehr, sehr lange."
Eine Frau und ein Mann stehen eng beieinander. Sie sind beide nackt. Sie hat einen Arm um seine Schulter gelegt, der andere Arm liegt auf seiner Brust. Er hat ebenfalls eine Hand locker auf ihre Schulter gelegt, mit der anderen führt er eine Zigarette zum Mund. Seine Augen sind geschlossen, die Gesichtszüge wirken entspannt. Sie lächelt, ebenfalls bei geschlossenen Augen.
Das Paar steht zwischen einem armselig wirkenden Küchentisch, auf dem ein paar Teller und leere Gläser stehen und einem ziemlich altersschwachen Herd mit einem Suppentopf drauf. Eine fleckige Blumenmuster-Tapete im Hintergrund, wie sie in proletarischen Milieus Anfang der 70er-Jahre auch im Westen beliebt war.

Als ob die Kamera nicht da ist

Es ist dennoch das pure Glück, das hier festgehalten wird. Die Szene wirkt so natürlich, als ob die Kamera nicht da sei. Gleich daneben: Eine Serie von Fotos, die den Betrachter zum Voyeur einer letztlich im Alkoholrausch kläglich gescheiterten erotischen Annäherung machen. Kurator Thomas Schirmböck:
"Es gibt in seinen Bildern etwas, das auf manche Menschen abstoßend oder zurückstoßend wirken wird. Und das ist das, dass wir in Situationen kommen, in die wir gemeinhin nur mit Menschen geraten, die uns sehr nahe sind. In intime Situationen. Und die sind so intim abgelichtet, dass wir uns entweder öffnen und sagen: Hui, das ist aber interessant. Oder das wir sagen: Das ist mir zu viel, das will ich eigentlich gar nicht sehen. Das ist etwas, was man aushalten muss, aber das ist eine ganz besondere Qualität, die nicht jeder kann."
Es sei nicht sein Ziel, Fotos zu machen, die Leute mögen, sagt Rimaldas Viksraitis. Stattdessen sei die -oft harte- soziale Realität für ihn immer bedeutsam gewesen. Deshalb hat der heute 63-Jährige schon mit Mitte 20 das Alltagsleben um ihn herum in den Fokus genommen. Immer mittels klassisch-analoger Schwarz-Weiß-Fotografie auf wunderschönen Silbergelatine-Prints.

Kunst neben der Arbeit als Lokalfotograf

Seine kraftvoll-anrührenden Sozialreportagen gestaltete Viksraitis noch in Sowjetzeiten jahrzehntelang neben seiner oft langweiligen Lohnarbeit als staatlich angestellter Lokalfotograf:
"Die einzige Firma, die mich damals bezahlte, war der sozialistische Staat. Ich musste im Auftrag des Staates Fotos von Hochzeiten oder Beerdigungen machen. Morgens arbeitete ich im Fotostudio, am Nachmittag machte ich Hochzeitsfotos und in der Nacht machte ich die Abzüge, um sie am nächsten Tag abzuliefern."
Für die eigentliche Foto-Kunst blieb Viksraitis meist nur das Wochenende. Zu Sowjetzeiten war auch undenkbar, seine Fotos aus dem Alltag der Landbevölkerung öffentlich auszustellen. Sie waren einfach zu ungeschminkt.
Seit gut einem Jahrzehnt aber wird Rimaldas Viksraitis vom wichtigen britischen Fotografen Martin Paar sowie Ausstellungsmachern international entdeckt und gefördert. Seine Fotos werden nun zu Recht weltweit gezeigt.

Analoges Gegengift zu den Internet-Filterblasen

Der Mannheimer Kurator Thomas Schirmböck, der als erster das gesamte Bild-Archiv des Litauers sehen durfte, sieht in den Viksraitis-Werken auch so etwas wie ein analoges Gegengift zu den Internet-Filterblasen, in denen sich mehr und mehr Zeitgenossen heute bewegen:
"In letzter Zeit gab es ja die Diskussion mit den Bubbels, dass sich alle ständig in irgendwelchen Blasen bewegen, sei es bei Facebook, sei es in anderen unserer Umgebungen. Wir kriegen hier einen Einblick in eine Welt, die fern jeder Blase ist. Wir sehen keine Telekommunikationsmittel auf den Bildern. Die Bilder sind entstanden zwischen 1974 und 2014, da ist das letzte entstanden. Die letzten Bilder sind tatsächlich so richtig aktuell. Und sie werden nicht feststellen, welches die ersten und welches die letzten Bilder sind. Den Bildern ist eine gewisse Zeitlosigkeit zu Eigen."
Oft sind die Szenen, die Viksraitis festhält, geradezu surreal. Fahrräder spielen für den selbst mehrfach-behinderten Fotografen eine große Rolle, genauso wie Kinder und Tiere oder andere Menschen mit Handicaps, die ihr Leben zu meistern versuchen.
Manche Fotos sind irrsinnig witzig, aber immer wieder werden auch brutal Armut oder die Folgen des sozialen Tsunami sichtbar, zu dem sich übermäßiger Alkoholgenuss entwickeln kann. Doch eines ist Rimaldas Viksraitis zur Eröffnung dieser großartigen Werkschau in Mannheim wichtig:
"Trotz der Armut, die man auf den Fotos sieht, auch der Beziehungskonflikte, die festgehalten sind oder auch angesichts des Unglücks, das sichtbar wird: Alle diese Leute sind sehr stark und sie haben auch mir geholfen, erwachsen zu werden. Und sich wünsche ihnen allen, dass ihr Leben eines Tages schön wird."

Die Ausstellung "Rimaldas Viksraitis: Am Rand der bekannten Welt" zeigt bis zum 29. April 2018 der Ausstellungsbereich für zeitgenössische Fotografie Zephyr in Mannheim.

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