Fotoexperiment als Lebenswerk
Er war ein Künstler mit surrealistischer Ader, Lust am Experimentieren und unbändiger Neugier für Naturwissenschaft und Technik: Mit der Schau "Ansichten und Strukturen" ehrt Wolfsburg seinen Fotografen Heinrich Heidersberger, zugleich beginnt damit ein Ausstellungsreigen, mit dem die Stadt den 100. Geburtstag ihres Sohnes feiert.
Lange Jahre bummelte der 1906 geborene Heinrich Heidersberger durch die Welt, studierte Ende der Zwanziger in Paris Malerei, schaute mit Vorliebe surrealistische Filme – und geriet dann auf einem Flohmarkt an der Seine per Zufall an sein ureigenes Medium, eine gebrauchte, sperrige Holzkamera:
"So bin ich in die Sphäre der Fotografie hineingerutscht, ohne sie damals eigentlich schon richtig zu verwenden."
"Richtig" bedeutet im Sprachgebrauch des polyglotten Fotografen "auf ganz eigene Art": Seit Heidersberger nämlich mit der Entwicklung seiner ersten Aufnahmen im Profilabor kein Glück hatte, tüftelt er lieber selber die optimale Lösung aus:
"Da sagte dieser Mann in dem Geschäft: 'Tout a fait surexposé', also vollständig überbelichtet – und da wusste ich: Na ja, die haben das eben verpfuscht! Ich hatte ein kleines Atelier, da habe ich dann die Platten bei Mondschein entwickelt und dann habe ich herumexperimentiert. Ich bin ja ein Autodidakt, das ist auch ganz typisch für mich, dass ich alle Dinge von Grund auf erproben wollte. Ich habe eigentlich nie an alles so geglaubt, wie es einem serviert wird."
Mit dieser kontrollierten Alchemie der Dunkelkammer, mit einer individuellen Mischung aus technischer Erfahrung und künstlerischem Experiment, machte zu eben jener Zeit in Paris Man Ray Furore. Und auch Heidersberger erklomm zwar nicht den Olymp, sicherte sich aber mit seiner Aufnahme vom abstrakten Schattenspiel der Fahrradfahrer auf dem Straßenpflaster einen Logenplatz in der angesehenen Zeitschrift "Arts et métiers graphiques".
Aber mehr als an Renommee oder am lukrativen Verkauf seiner Bilder blieb der Fotograf am Experiment interessiert: Das beweist die Wolfsburger Ausstellung mit "Ansichten und Strukturen" – so der treffende Titel: Rhythmogramme sind da zu sehen, abstrakte Lichtspuren einer von Heidersberger erbauten Pendel- und Zeichenmaschine. Oder die graphische Pracht extrem vergrößerter Schneeflocken.
All das brachte aber nichts ein, und deshalb verlegte sich der Kunststudent mit der Kamera auf Architekturfotografie. In Braunschweig und später dann in Wolfsburg baute Heidersberger Feldstecher der englischen Armee zu Teleobjektiven um. Damit ließen sich Fassaden und ganze Häuserfluchten kulissenartig zusammenrücken.
"Mich hat die Technik interessiert, ich war ja, was man so grob gesprochen einen Bastler nennt. Aber nach einem Praktikum habe ich doch entdeckt, dass das zuwenig die andere Seite von mir mit einbezieht, nämlich die künstlerische. Und Architektur war da so eine Art Übergang."
So hatte das Interesse für Naturwissenschaft und Technik den Fotografen nicht nur gegen die Blut-und-Boden-Ideologie der Nazis immunisiert: Mit seiner ebenso effektvollen wie sachlich angemessenen Inszenierung rückte Heidersberger zum Architekturfotografen der damals sehr erfolgreichen "Braunschweiger Schule" um Friedrich Wilhelm Krämer, Dieter Oesterlen und den auch in Wolfsburg tätigen Alvar Aalto auf. Aus dieser Zeit stammt ein Großteil der von Susanne Pfleger erarbeiteten Ausstellung:
"Es sind hier überwiegend Auftragsarbeiten zu sehen. Heidersberger hat aber auch in diesen Auftragsarbeiten seine ganz eigene Sicht vertreten. Und zwar war typisch für ihn eine Frontalsicht."
Heidersberger meidet die Symmetrie, bricht allzu geradlinige Achsen. Fenster und Türen werden bei ihm zu eigenständigen Elementen, die vom Rand her die monotonen Fluchten der Rasterbauten durchkreuzen. Wie zufällig tauchen neben den klar gegliederten Monumenten der Moderne vereinzelte Autos auf, schiebt sich ein Renaissanceschlösschen ins Bild, werden zwischen anonymen Architekturskulpturen Ansätze einer kleinen Geschichte sichtbar. Das schließt an eine weitere Facette an, die für Bernd Rodrian bei seinen Recherchen im 75000 Aufnahmen umfassenden Heidersberger-Archiv aufblitzte:
"Dass Heidersberger auch als Bildjournalist Reportagen gemacht hat, vornehmlich für den 'Stern', da er Henri Nannen in den fünfziger Jahren kennen gelernt hatte, ist ein Aspekt, der durch die Arbeit im Archiv zutage kam. Es existierten ein paar Aufnahmen mit Elefanten, von denen niemand wusste, wo sie her sind. Heidersberger fiel dann einiges dazu wieder ein, und so haben die Bilder erst ihre Geschichte bekommen."
Die Elefanten stampfen durch den Harz. Es ist die vergessene Geschichte der Flucht eines DDR-Zirkus in den Westen. Im Archiv abgelegt waren auch abstrakte Aktkompositionen, die 1949 unter dem Titel "Kleider aus Licht" im "Stern" erschienen: Nackte Frauenkörper, in Muster aus Lichtpunkten, Zebrastreifen oder Lochschablonen gehüllt. Das ist immer noch en vogue, ganz zeitgemäß.
Überdauert hat auch die Schönheit technischer Strukturen in Fotografien, für die sich der Pariser Poet Jean Cocteau Ende der Fünfziger mit einem Gedicht bedankte. Und seinem Lob kann man sich nur anschließen, etwa vor der großformatigen Schwarzweißaufnahme der Jahrhunderthalle in Hoechst. Die elegante Betonschale spiegelt sich in einer Wasserlache, springt ins Auge wie eine Vision der Jahrzehnte später bekannt gewordenen Archigram-Gruppe. Untermalt wird die Komposition von einer mächtigen Wolke – und das ist kein Zufall:
"Es gibt ein kleines Wolkenarchiv. Die Wolke bei dieser Aufnahme ist die Wolke Nummer zehn. Ich habe mittlerweile sieben bis acht Aufnahmen gefunden, wo auch Wolken einkopiert wurden."
Dieser Fotograf also hatte sich seinen "photoshop" angelegt, als das Wort völlig unbekannt und von Computern noch nicht einmal die Rede war, unterstreicht Bernd Rodrian, Leiter des vor einigen Jahren gegründeten "Institut Heidersberger":
"Was er schon für technische Lösungen in der Vorcomputerzeit suchte und fand, um seine Aufnahmen zu perfektionieren. Dinge, die für uns heute in der digitalen Bildverarbeitung selbstverständlich sind, hat er damals angewandt, mit sehr viel akribischem Arbeiten und Erforschen."
All das zu zeigen, reicht nicht einmal das Dutzend geplanter Jubiläums-Ausstellungen aus, vermutet Susanne Pfleger von der Städtischen Galerie Wolfsburg:
"Heidersberger ist ein derart facettenreicher Fotograf, ein Mann, der so viele Interessen hat, dass er wirklich nicht zu fassen ist. Und es ist schön zu sehen, dass er auch im Alter all seine Interessen bewahrt hat, vor allem das Interesse am Experiment."
Service:
Die Ausstellung "Ansichten und Strukturen" mit Arbeiten von Heinrich Heidersberger ist bis zum 29. April in der Städtischen Galerie Wolfsburg zu sehen.
"So bin ich in die Sphäre der Fotografie hineingerutscht, ohne sie damals eigentlich schon richtig zu verwenden."
"Richtig" bedeutet im Sprachgebrauch des polyglotten Fotografen "auf ganz eigene Art": Seit Heidersberger nämlich mit der Entwicklung seiner ersten Aufnahmen im Profilabor kein Glück hatte, tüftelt er lieber selber die optimale Lösung aus:
"Da sagte dieser Mann in dem Geschäft: 'Tout a fait surexposé', also vollständig überbelichtet – und da wusste ich: Na ja, die haben das eben verpfuscht! Ich hatte ein kleines Atelier, da habe ich dann die Platten bei Mondschein entwickelt und dann habe ich herumexperimentiert. Ich bin ja ein Autodidakt, das ist auch ganz typisch für mich, dass ich alle Dinge von Grund auf erproben wollte. Ich habe eigentlich nie an alles so geglaubt, wie es einem serviert wird."
Mit dieser kontrollierten Alchemie der Dunkelkammer, mit einer individuellen Mischung aus technischer Erfahrung und künstlerischem Experiment, machte zu eben jener Zeit in Paris Man Ray Furore. Und auch Heidersberger erklomm zwar nicht den Olymp, sicherte sich aber mit seiner Aufnahme vom abstrakten Schattenspiel der Fahrradfahrer auf dem Straßenpflaster einen Logenplatz in der angesehenen Zeitschrift "Arts et métiers graphiques".
Aber mehr als an Renommee oder am lukrativen Verkauf seiner Bilder blieb der Fotograf am Experiment interessiert: Das beweist die Wolfsburger Ausstellung mit "Ansichten und Strukturen" – so der treffende Titel: Rhythmogramme sind da zu sehen, abstrakte Lichtspuren einer von Heidersberger erbauten Pendel- und Zeichenmaschine. Oder die graphische Pracht extrem vergrößerter Schneeflocken.
All das brachte aber nichts ein, und deshalb verlegte sich der Kunststudent mit der Kamera auf Architekturfotografie. In Braunschweig und später dann in Wolfsburg baute Heidersberger Feldstecher der englischen Armee zu Teleobjektiven um. Damit ließen sich Fassaden und ganze Häuserfluchten kulissenartig zusammenrücken.
"Mich hat die Technik interessiert, ich war ja, was man so grob gesprochen einen Bastler nennt. Aber nach einem Praktikum habe ich doch entdeckt, dass das zuwenig die andere Seite von mir mit einbezieht, nämlich die künstlerische. Und Architektur war da so eine Art Übergang."
So hatte das Interesse für Naturwissenschaft und Technik den Fotografen nicht nur gegen die Blut-und-Boden-Ideologie der Nazis immunisiert: Mit seiner ebenso effektvollen wie sachlich angemessenen Inszenierung rückte Heidersberger zum Architekturfotografen der damals sehr erfolgreichen "Braunschweiger Schule" um Friedrich Wilhelm Krämer, Dieter Oesterlen und den auch in Wolfsburg tätigen Alvar Aalto auf. Aus dieser Zeit stammt ein Großteil der von Susanne Pfleger erarbeiteten Ausstellung:
"Es sind hier überwiegend Auftragsarbeiten zu sehen. Heidersberger hat aber auch in diesen Auftragsarbeiten seine ganz eigene Sicht vertreten. Und zwar war typisch für ihn eine Frontalsicht."
Heidersberger meidet die Symmetrie, bricht allzu geradlinige Achsen. Fenster und Türen werden bei ihm zu eigenständigen Elementen, die vom Rand her die monotonen Fluchten der Rasterbauten durchkreuzen. Wie zufällig tauchen neben den klar gegliederten Monumenten der Moderne vereinzelte Autos auf, schiebt sich ein Renaissanceschlösschen ins Bild, werden zwischen anonymen Architekturskulpturen Ansätze einer kleinen Geschichte sichtbar. Das schließt an eine weitere Facette an, die für Bernd Rodrian bei seinen Recherchen im 75000 Aufnahmen umfassenden Heidersberger-Archiv aufblitzte:
"Dass Heidersberger auch als Bildjournalist Reportagen gemacht hat, vornehmlich für den 'Stern', da er Henri Nannen in den fünfziger Jahren kennen gelernt hatte, ist ein Aspekt, der durch die Arbeit im Archiv zutage kam. Es existierten ein paar Aufnahmen mit Elefanten, von denen niemand wusste, wo sie her sind. Heidersberger fiel dann einiges dazu wieder ein, und so haben die Bilder erst ihre Geschichte bekommen."
Die Elefanten stampfen durch den Harz. Es ist die vergessene Geschichte der Flucht eines DDR-Zirkus in den Westen. Im Archiv abgelegt waren auch abstrakte Aktkompositionen, die 1949 unter dem Titel "Kleider aus Licht" im "Stern" erschienen: Nackte Frauenkörper, in Muster aus Lichtpunkten, Zebrastreifen oder Lochschablonen gehüllt. Das ist immer noch en vogue, ganz zeitgemäß.
Überdauert hat auch die Schönheit technischer Strukturen in Fotografien, für die sich der Pariser Poet Jean Cocteau Ende der Fünfziger mit einem Gedicht bedankte. Und seinem Lob kann man sich nur anschließen, etwa vor der großformatigen Schwarzweißaufnahme der Jahrhunderthalle in Hoechst. Die elegante Betonschale spiegelt sich in einer Wasserlache, springt ins Auge wie eine Vision der Jahrzehnte später bekannt gewordenen Archigram-Gruppe. Untermalt wird die Komposition von einer mächtigen Wolke – und das ist kein Zufall:
"Es gibt ein kleines Wolkenarchiv. Die Wolke bei dieser Aufnahme ist die Wolke Nummer zehn. Ich habe mittlerweile sieben bis acht Aufnahmen gefunden, wo auch Wolken einkopiert wurden."
Dieser Fotograf also hatte sich seinen "photoshop" angelegt, als das Wort völlig unbekannt und von Computern noch nicht einmal die Rede war, unterstreicht Bernd Rodrian, Leiter des vor einigen Jahren gegründeten "Institut Heidersberger":
"Was er schon für technische Lösungen in der Vorcomputerzeit suchte und fand, um seine Aufnahmen zu perfektionieren. Dinge, die für uns heute in der digitalen Bildverarbeitung selbstverständlich sind, hat er damals angewandt, mit sehr viel akribischem Arbeiten und Erforschen."
All das zu zeigen, reicht nicht einmal das Dutzend geplanter Jubiläums-Ausstellungen aus, vermutet Susanne Pfleger von der Städtischen Galerie Wolfsburg:
"Heidersberger ist ein derart facettenreicher Fotograf, ein Mann, der so viele Interessen hat, dass er wirklich nicht zu fassen ist. Und es ist schön zu sehen, dass er auch im Alter all seine Interessen bewahrt hat, vor allem das Interesse am Experiment."
Service:
Die Ausstellung "Ansichten und Strukturen" mit Arbeiten von Heinrich Heidersberger ist bis zum 29. April in der Städtischen Galerie Wolfsburg zu sehen.