Fotoband "Die Angehörigen"

Die Geschichten der Opfer sichtbar machen

09:53 Minuten
Porträt von Đỗ Mui, der Mutter von Đỗ Anh Lân.
Leben mit dem Trauma: Do Mui ist die Mutter des Vietnamesen Do Anh Lan, der in Hamburg 1980 bei einem Angriff von Neonazis getötet wurde. © Jasper Kettner
Jasper Kettner im Gespräch mit Shali Anwar  · 17.12.2019
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Mit dem Bildband "Die Angehörigen" widmet sich der Fotograf Jasper Kettner den Hinterbliebenen von Opfern rechtsextremer Gewalt. Viele fühlen sich von der Gesellschaft vergessen und ringen um das Gedenken.
Nach rechtsextremen Angriffen stehen oft die Täter im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Diesen Fokus will der Fotograf Jasper Kettner nun mit seinem Fotoband "Die Angehörigen" verschieben. Er realisierte ihn zusammen mit Ibrahim Arslan, einem Opfer des Brandanschlags in Mölln 1992. Porträtiert werden in diesem Buch Angehörige von rechtsextremer Gewalt.

Der Blick auf die Opfer

Auf die Idee kam Kettner, weil er selbst feststellte, dass er die Namen der NSU-Morde nicht kannte, aber die Namen der Täter. Daraus habe sich dann die Frage entwickelt: "Wer sind die und wer ist da noch?", sagt der Fotograf. Viele Fälle seien unbekannt. "Es geht uns darum, diese Geschichten sichtbar zu machen." Vor 1990 gebe es keine vergleichbaren Zahlen, sagt Kettner. Danach nennt die Bundesregierung 85 Todesfälle, Recherchen von "Zeit Online" und dem "Tagesspiegel" kommen aber bis 2018 auf 169 sichere Todesfälle. Hinzu kämen nach Angaben dieser Medien noch rund weitere 65 Verdachtsfälle, so Kettner. Außerdem gebe es Menschen, die an Spätfolgen gestorben seien, aber ohne Bestätigung eines Arztes blieben, oder Menschen, die selbst getötet hätten als Reaktion auf Rassismus. "Wir haben für das Buch einen sehr breiten Blick gewählt."
Servet Yilmaz, Bruder von Ayşe Yilmaz, steht zwischen vertrockneten Pflanzen in einem Gewächshaus.
Servet Yilmaz, Bruder von Ayşe Yilmaz, eines der Opfer des Brandanschlags von Mölln. © Jasper Kettner
Die Kontaktaufnahme zu den Hinterbliebenen sei relativ schwierig gewesen, sagt Kettner. Sein Kollege Arslan kenne natürlich viele, weil er selber Opfer sei. "Das war eine große Hilfe für uns." Ansonsten habe man bei der Recherche auch Namen im Telefonbuch gesucht und erste Anrufe getätigt. Die Angehörigen der Opfer aus den 1980er-Jahren seien überwiegend sehr dankbar gewesen, denn sie hätten das Gefühl, vergessen zu sein. Hinterbliebene aus den 1990er-Jahren, gerade die prominenten Fälle, hätten häufig eine Zusammenarbeit abgelehnt. Sie wollten auch nicht immer über die Toten definiert werden. Bei den aktuellen Fällen sei es sehr unterschiedlich gewesen, ob Angehörige schon fähig gewesen seien, zu sprechen. Überall seien mehrere Besuche und lange Gespräche nötig gewesen.

Ringen um das Gedenken

Den Ort für das Foto hätten immer die Hinterbliebenen ausgewählt. Es sei ein Versuch gewesen, die Verstorbenen auf gewisse Weise mit ins Bild zu holen. Die Mutter von Burak Bektaş stehe beispielsweise in dessen Jugendzimmer, das seit dem Mord an ihm unverändert geblieben sei. "Es gibt Parallelen, dass diese Menschen alle damit ringen, was eine Form des Gedenkens ist." Sie hätten damit zu kämpfen, dass ihnen die polizeilichen Ermittlungen häufig nicht weit genug gingen. Dazu Kettner: "Man kann das am NSU-Prozess verdeutlichen, die Frage nach den Netzwerken hätte diese Menschen natürlich sehr interessiert."
Viele der Hinterbliebenen würden sich mehr Hilfe wünschen. "Eine hat mal gesagt, es ist schön, wenn Täter Sozialarbeiter für die Resozialisierung bekommen, es wäre ganz schön, wenn die Angehörigen das ebenso bekommen würden, um resozialisiert zu werden von ihren Traumatisierungen." Leider müsse das Projekt weitergehen, denn die Geschichte höre nicht auf, sagt der Fotograf. Mit dem Buch könnten jetzt auch nochmal andere Angehörige kontaktiert werden. Und es würden natürlich neue Fälle dazu kommen – leider."
(gem)
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