Foto-Ausstellung

Das internationale Phänomen der Wanderarbeit

Von Anette Schneider · 15.11.2013
Bei dem Begriff Wanderarbeiter denkt man als erstes an China und die 200 Millionen Menschen, die dort in der Hoffnung auf Arbeit in die Städte ziehen. Eine große Foto-Ausstellung im Hamburger Museum der Arbeit zeigt nun: Wanderarbeit gibt es längst auch in Europa, in Deutschland, in Hamburg, Berlin oder Brandenburg.
Auf dem Deck eines Schiffes stehen fünf Männer in leuchtend orangenen Overalls vor einer Mauer aus Containern. Sie sind sichtlich erschöpft, ihre Augen blicken abweisend, ihr Lächeln wirkt gezwungen.
Das Bild stammt aus Oliver Tjadens Foto-Reportage "Cargonauten", mit der die Ausstellung eröffnet. Falls das Klischee vom abenteuersuchenden Seefahrer jemals gestimmt haben sollte – seine Bilder der auf engstem Raum auf sich selbst zurückgeworfenen Männer zeigen: Heute sind die Gründe andere.
Oliver Tjaden: "Die wirtschaftliche Not. ... Da arbeiten philippinische Seeleute auf Containerschiffen, und bekommen gerade das Geld, dass sie nicht wieder ihre Sachen packen, und wieder nachhause fahren."
Neun umfangreiche Fotoprojekte umfasst die Ausstellung. Dazu liefert sie einige wenige, erhellende Zahlen zur Wanderarbeit, die Menschen aus purer Not aus ihrer Heimat treibt: Außerhalb Chinas suchen über 200 Millionen Menschen auf diesem Weg Arbeit, fast 11 Millionen sind es allein in der EU. Ansonsten vertraut Kurator Stefan Rahner ganz auf die Bilder. Sie entstanden in China und Thailand, vor allem aber vor unserer Haustür: In Moldawien, Italien, der Bundesrepublik.
Stefan Rahner: "Unsere These ist, dass die Wanderarbeit, die heute – also in den letzten 20 Jahrenzu beobachten ist, in der Quantität und Qualität doch einen neuen Charakter bekommen hat, ... die sich im Rahmen der Globalisierung vollzieht. ... Dass es immer weniger Vollerwerbsarbeitsplätze geben wird bei uns, und immer mehr Arbeitsverhältnisse sich auflösen, prekärer werden, befristet sind, sozial weniger abgesichert sein werden."
Schutz vor Wetter, Schmutz und der Polizei
Die Bilder zeigen Menschen, die ihre Arbeitskraft unter jeder Bedingung zu Markte tragen müssen, um zu überleben. Ralf Tooten fotografierte Wanderarbeiter auf thailändischen Großbaustellen. Vor einheitlich schwarzem Hintergrund sieht man mit Tüchern und Strohhüten verdeckte Gesichter. Diese Aufmachung dient den illegalen und rechtlosen Arbeitern und Arbeiterinnen nicht nur als Schutz vor Sonne und Staub, sondern auch vor einem schnellen Erkennen durch die Polizei.
Stefan Rahner: "Wir hatten das Interesse, ... die Aufmerksamkeit also auf die Menschen, auf die persönlichen Schicksale, auf ihre Motive, auf ihre Hoffnungen, die sich mit der Wanderarbeit verbinden, zu richten. Wir haben Fotoprojekte zusammengesammelt, die eben sehr intensiv an den Menschen interessiert waren, und zum Teil über Jahre hinweg das Thema bearbeitet haben, aber vor allem über Einzelschicksale das dokumentieren."
Das funktioniert nicht durchgängig: So überzeugt die Form des reinen Porträts nicht immer, zumal dann nicht, wenn die erläuternden Texte so kurz gehalten sind, dass man keine Hintergründe über die Dargestellten erfährt.
Sehr beeindruckend ist dagegen Andrea Diefenbachs Arbeit "Land ohne Eltern": Sie reiste mehrfach nach Moldawien, in die einst reichste Sowjetrepublik, deren Wirtschaft nach 1990 durch die kapitalistische Konkurrenz aus dem Westen vernichtet wurde. Seitdem müssen sich zigtausende Moldawieroft Ehepaareals billige Erntehelfer, Putzfrauen und Altenpflegerinnen in Italien verdingen. Diefenbach zeigt sie bei diesen Arbeitenund das, was sie in Moldawien zurücklassen mussten: ihre Kinder.
Osteuropäische Arbeiter im Kleinbus begleitet
Der Fotograf Mauricio Bustamante stammt aus Argentinien, lebt jetzt in Hamburg, und begleitete sechs Tage lang osteuropäische Arbeiter in einem Kleinbus von Hamburg nach Bulgarien und zurück. In seiner Videoprojektion sieht man schwarz-weiß-Fotos von der Reise und den Reisenden, die er überblendet mit während der Fahrt entstandenen Filmaufnahmen des sich spiegelnden Autoglases.
Mauricio Bustamante: "Diese Bewegung finde ich sehr wichtig. Das ist etwas, was ein Wanderarbeiter erlebt – außer die Arbeit. ... Ich komme aus Argentinien und hatte selber auch Erfahrungen eines Wanderarbeiters gemacht. ... Und ich weiß, dass dieses Gefühl ist zweideutig. Weil es schön ist, zu reisen, voll mit Hoffnung. Aber die andere Seite ist traurig, weil man etwas hinter sich lassen musste. Es ist egal, ob man zurück geht oder hingehtbeide Seiten ist Traurigkeit und viel Hoffnung."
Am Ende zeigt Bustamante, was aus den Hoffnungen der Menschen wurde: Sie arbeiten im Schlachthof, sie schlafen in Kellerunterkünften.
So ist dem Museum der Arbeit eine aktuelle und eindringliche Ausstellung gelungen. Nur eines fehlt ausgerechnet in dem Haus, das sich der Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung widmet: Der Hinweis, dass diese menschenverachtenden Verhältnisse von Menschen per Gesetz gemacht wurdenalso veränderbar sind. Von Widerstand aber erfährt man nur einmal in einem Begleittext zu einer Reportage über chinesische WanderarbeiterBilder davon sieht man leider nicht.
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