Fortschritt und Dilemma

Moderation: Ralf Müller-Schmid · 01.07.2008
Entscheidungen lassen sich im Gehirn ablesen, noch bevor sie getroffen werden. Dies versucht die Hirnforschung anhand von Experimenten mit Probanden zu belegen. Man könne damit zum Beispiel Menschen helfen, die sich nicht mehr bewegen könnten, mittels Computern ihre Gedanken auszudrücken, meint John-Dylan Haynes. Eine schwierigere Frage sei allerdings, ob man das Verfahren in ferner Zukunft auch als Lügen-Detektor einsetzen könne.
Ralf Müller-Schmid: Wir haben es von Alexandra Mangel gehört, sieben bis zehn Sekunden, bevor wir es merken, brütet das Gehirn schon unsere Entscheidungen aus. Bei mir im Studio ist jetzt der Mann, der dieses Phänomen erforscht hat und daran immer noch forscht. John-Dylan Haynes, schön, dass Sie bei uns sind! Willkommen!

John-Dylan Haynes: Ja, guten Tag!

Müller-Schmid: Wir haben gehört, wie der Versuch abläuft. Kann man Ihre Ergebnisse so zusammenfassen, dass die Hirnforschung immer schon sagen wir so acht Sekunden weiß, was jemand tut, vorausgesetzt, man hat einen Computertomografen bei der Hand?

Haynes: Also im Prinzip sind die Hirnsignale da, und mit geeigneten Methoden könnten wir sie auch auslesen und dann vorhersagen, wie sich jemand entscheiden wird, noch bevor er sich dessen selbst bewusst ist. Allerdings scheitert das natürlich in der Praxis daran, dass wir Menschen normalerweise nicht in einem Tomografen haben, sondern im Alltag ist so was natürlich nicht möglich.

Müller-Schmid: Vielleicht sprechen wir zum besseren Verständnis dann noch mal genauer davon, wie Ihr Experiment aufgebaut ist. Was geben Sie den Probanden für Anweisungen, wie sieht der Arbeitsauftrag an die Menschen aus, die bei den Experimenten mitmachen?

Haynes: Die Probanden liegen auf dem Rücken in einem Scanner und bekommen in die linke Hand und in die rechte Hand jeweils einen Knopf. Und jetzt bitten wir die Probanden, sich zu einem vollkommen von ihnen frei wählbaren Zeitpunkt zu entscheiden, entweder den linken oder den rechten Knopf zu drücken. Das ist natürlich keine realweltliche Entscheidung wie zum Beispiel, welches Haus werde ich kaufen oder welches Auto werde ich kaufen oder was werde ich heute zum Abendessen kochen, wir müssen das runterbrechen, damit das in so einem Tomografen umsetzbar ist. Danach bitten wir die Probanden, sobald sie sich entschieden haben, sich zu merken, welcher Buchstabe gerade auf dem Bildschirm zu sehen ist. Es gibt nämlich so einen Strom an Buchstaben, die sich alle halbe Sekunde ändern.

Müller-Schmid: Also da läuft im Grunde das ABC durch wie auf einem Band, was vorbeiläuft.

Haynes: Genau, in gemischter Reihenfolge. Und die müssen sich noch merken, zu dem Zeitpunkt, wo sie sich entschieden haben, welcher Buchstabe da gerade zu sehen war, damit wir das zeitlich verorten können, damit wir genau wissen, wann sich die Person entschieden hat. Und parallel dazu leiten wir die Hirnaktivität ab. Und jetzt gehen wir zurück in der Zeit, von dem Zeitpunkt, wo sich die Person entschieden hat, und versuchen, zwei Sekunden vor der Entscheidung, vier Sekunden vor der Entscheidung, sechs Sekunden vor der Entscheidung usw. vorherzusagen aus der Hirnaktivität, wie sich jemand gleich entscheiden wird. Und das funktioniert ganz gut.

Müller-Schmid: Ist denn die Entscheidung zwischen rechts und links etwas, was tatsächlich im Gehirn einen Unterschied macht? Was sieht man da?

Haynes: Die Motorik ist natürlich für uns etwas ungeheuer Wichtiges. Man könnte sagen, unser ganzes Gehirn existiert nur dazu, damit es angemessene Bewegungen ausführen kann auf bestimmte Sinnesreize. Das heißt, die Motorik ist ganz prominent im Gehirn überall kodiert. Die Muster, die wir uns anschauen – wir trainieren einen Computer darauf, die spezifischen Hirnmuster zu erkennen, wenn jemand unbewusst beabsichtigt, eine linke oder rechte Bewegung auszuführen –, diese Muster unterscheiden sich in einer ganz bestimmten Stelle des Gehirns, das ist im Bereich gleich hinter der Stirn, im Stirnhirn, und zwar, wenn man da reinzoomen würde, sich das ganz fein aufgelöst anschauen würde, würden wir feststellen, dass sich so leichte Unterschiede in den Aktivierungsmustern darstellen. Das heißt, das sieht also ein bisschen anders aus, wenn wir links entscheiden werden, und etwas anders aus, wenn wir rechts entscheiden werden.

Müller-Schmid: Was ist denn da das Fernziel Ihrer Forschung? Da könnte man ja sagen, wenn die Auflösung des Computers noch etwas besser wird, dann weiß man nicht nur rechts und links, dann weiß man irgendwann, wenn man ins Gehirn guckt, Lieblingsfarbe blau, noch ein bisschen bessere Auflösung wäre dann Lieblingspartei grün, wenn man das sich so weiter vorstellt. Ist Gedankenlesen das Fernziel der Forschung?

Haynes: In einer ganzen Reihe von unseren Forschungsprojekten geht es immer wieder um die Frage, inwiefern wir die Gedanken von Menschen aus ihrer Hirnaktivität auslesen können, und das beruht einfach darauf, dass wenn man etwas anderes denkt, dann stellt sich auch ein anderes Aktivierungsmuster im Gehirn ein, und wenn wir diese Muster erkennen können, dann können wir auch die Gedanken lesen. Aber das ist wirklich noch in den Kinderschuhen, und zwar deswegen, weil wir die Muster wissen müssen. Wir müssen also vorher wissen, welches Muster stellt sich im Gehirn einer Person ein, wenn sie zum Beispiel an "ich koche heute Abend Nudeln" versus "ich koche heute Abend Bratkartoffeln" denke. Diese beiden unterschiedlichen Gedanken, die Muster, die damit einhergehen, die müssen wir erst mal messen. Dazu müssen wir die Probanden erst mal bitten, sich diese Gedanken vorzustellen, und daran können wir dann diese Geräte kalibrieren. Damit ist natürlich auch ein großes Problem gezeichnet, und zwar, dass wir prinzipiell nur solche Gedanken auslesen können, wo wir diese Aktivitätsmuster im Gehirn schon erkennen können.

Müller-Schmid: Wie wir denken, was wir fühlen – wir sprechen im Radiofeuilleton über den aktuellen Stand der Hirnforschung mit John-Dylan Haynes, der ein aufsehenerregendes Experiment zur Vorhersage von Handlungen gemacht hat. Herr Haynes, linke Taste, rechte Taste, da hat man, wenn man rät, ja immerhin eine Chance von 50 Prozent, richtig zu liegen. Welche Erfolgsquote haben Sie?

Haynes: Wir sind klar über zufällig, wir sind bei 60 Prozent, das heißt, wir sind nicht so weit über Zufall, aber …

Müller-Schmid: Der Laie würde sagen, so eine riesige Sicherheit haben Sie dann natürlich auch nicht, wenn Sie annehmen, dass Sie ja auch mal einen guten Tag haben beim Raten.

Haynes: Absolut. In diesem Fall ist es nicht ganz so einfach, weil wir natürlich viele hundert Messungen gemacht haben, und wenn man jetzt 600 aus 1000 hat, ist es ganz klar nicht Zufall, sondern es ist klar statistisch auffällig.

Müller-Schmid: Nun müssen ja die Leute, die da in der Röhre bei Ihnen liegen, selber angeben, wann sie sich entschieden haben, Sie haben das Prinzip erklärt. Da läuft so ein Buchstabenband ab, und dann sagt man: Als das Z zu sehen war, da habe ich mich für den linken Knopf entschieden. Nun könnte man ja sagen, wie kann man das überhaupt als objektiven Wert gelten lassen, weil das ist ja doch erst mal was, wo ich sehr subjektiv urteile?

Haynes: Sie sprechen da ein ganz wichtiges Problem an, und zwar ist das die Frage danach, wie wir wissen können, was eine Person gerade denkt. Wir wissen niemals mit vollkommener Sicherheit, was ein Proband in einem Experiment denkt. Die Privatsphäre der eigenen Gedanken ist so, dass wir überhaupt nicht dazu in der Lage sind, von außen das zu erkennen. Aber es gibt ein paar Hinweise darauf. Und zwar ist es so, dass wenn man Probanden sagt: Du musst jetzt die linke oder rechte Taste drücken – oder nachdem sie sich entschieden haben, da wissen wir, dass wir sofort aus motorischen Hirnregionen auslesen können, wie sich jemand entschieden hat. Das heißt, wenn ich jetzt eine Entscheidung fälle, ich werde links drücken, dann bereite ich schon mein Gehirn ganz weit darauf vor, dass es quasi nur noch das Startzeichen braucht, und dann wird die Handlung umgesetzt.

Müller-Schmid: Man sitzt sozusagen im Sprung.

Haynes: Mit sitzt im Sprung, genau. Und diese Areale, die finden wir in unserem Experiment nicht. Das heißt, wir finden die hohen, komplexen Planungsareale, aber wir finden nicht diese Areale, die die Ausführung unmittelbar umsetzen. Das heißt, wir interpretieren das so, dass die Person sich zu dem Zeitpunkt unbewusst entschieden hat, das Gehirn hat entschieden, aber erst dann, wenn man sich bewusst entscheidet oder wenn das Bewusstsein dazukommt, erst dann bereitet man die Handlung richtig vor.

Müller-Schmid: Sie sagen, Sie können sozusagen nicht in den Kopf hineinschauen und wissen natürlich nicht, was da jetzt in Gänze vorgeht. Auf der anderen Seite gibt es ja viele Sorgen, auch kritische Anmerkungen zu dem, was Sie erforschen. Zum Beispiel der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner aus Zürich wendet gegen die Arbeit, insbesondere mit solchen bildgebenden Verfahren, ein, dass da eine Evidenz, also eine Anschaulichkeit suggeriert wird, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Gehen Sie kritisch genug mit den Bildern um?

Haynes: Ich glaube, dass wir auf jeden Fall kritisch mit unserer eigenen Forschung umgehen. Wir haben immer wieder auf die ethischen Aspekte unserer Forschung hingewiesen, das hat es auch bis zur Schlagzeile auf dem Titelblatt des "Guardian" letztes Jahr gebracht. Und in meiner Forschung ist es immer wieder wichtig, ich weise immer wieder auf die ethischen Probleme damit hin. Man muss sich eine Sache klar vor Augen führen: Das eine ist, diese Verfahren haben etwas Gutes, wir können damit gute Dinge tun. Und die guten Dinge sind, wir können dabei zum Beispiel Menschen helfen, die sich nicht mehr bewegen können, mittels Computern ihre Gedanken auszudrücken, mitzuteilen, zu kommunizieren, Rollstühle zu steuern, tolle Sachen. Also so was, da haben wir natürlich auf gar keinen Fall was dagegen. Auf der anderen Seite wollen wir natürlich aufpassen, dass die mentale Privatsphäre nicht verletzt wird. Das heißt, wir wollen nichts auslesen gegen den Willen einer Person. Und so sehe ich auch sehr kritisch Forschung im Bereich der sogenannten Neuro-Marketings, also Gehirn-Marketings, wo man diese Techniken verwenden würde, um zum Beispiel Produktstrategien, Marketingstrategien zu optimieren.

Müller-Schmid: Nun ist Werbung ja noch der harmlosere Fall, man kann sich ja ohne Weiteres eine Art Super-Lügen-Detektor vorstellen, wo man auf die Frage: "Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?", gar keine Wahl hat, weil das Gehirn hat es schon längst verraten.

Haynes: Absolut. Die Lügendetektion halte ich allerdings für einen Bereich, der eher ambivalent ist. Man kann natürlich die mentale Privatsphäre von Menschen fundamental schützen und sagen, wir verwenden diese Verfahren nicht, um Gedanken auszulesen, prinzipiell. Dann hat man die mentale Privatsphäre der Personen geschützt und damit auch zum Beispiel einen Täter davor geschützt, dass man zum Beispiel die Belege für ihre Tat aus ihrer Hirnaktivität auslesen kann. Auf der anderen Seite, wenn wir dieses starke Prinzip anwenden, verletzen wir natürlich auch wiederum die Rechte des unschuldig Beschuldigten, und zwar, weil diese Person ihrer Möglichkeit beraubt wird, dass sie ihre Unschuld belegt. Man muss sich dieses Dilemma klarmachen, man muss sich, wenn man diese Entscheidung trifft, für oder gegen Lügendetektion, muss man sich klarmachen, dass man die einen oder die anderen Rechte verletzt. Und es gibt da keine einfache Entscheidung.

Müller-Schmid: John-Dylan Haynes, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!
Mehr zum Thema