Fortschritt und der deutsche Wald

Von Katharina Döbler · 30.12.2010
Deutschland ist international für seine Dichter und Denker ebenso berühmt wie für seine dunklen Wälder, hohen Tannen und knorrigen Eichen. Sehr wahrscheinlich wären ohne die vielen Bäume unsere Dichter nicht geworden, was sie sind.
Für seine Wirtschaftsleistung ist unser Land ebenfalls berühmt und deren mythologische Anfänge haben ebenfalls mit Wäldern zu tun: In den Volksmärchen treten häufig Männer mit schwarzem Gesicht auf, die tief im Walde unter erheblicher Rußentwicklung Bäume in Energieträger umwandeln. Das sind die Kohlenbrenner, der Archetyp des industriellen Schwerarbeiters: Die Köhlerei war eine Zulieferbranche für die Herstellung von Glas und von Eisen – damit eben auch für Waffen. Riesige Waldgebiete fielen ihr zum Opfer.

Dass sich Bäume langfristig schlecht mit blühender Industrie vertragen, ist im kollektiven Bewusstsein hierzulande seit alters her fest verankert. Bis heute ist dieser Widerspruch höchst lebendig: Ob man jetzt an den Ärger der Autofahrer mit den Alleebäumen denkt, an das durch die Industrieabgase verursachte Waldsterben, oder, ganz aktuell, an die Bäume im Schlosspark von Stuttgart. Dem technischen Fortschritt ist der Baum tendenziell im Wege. Der Baum ist eine Synthese von Lebendigkeit und statischer Ruhe und damit der vielleicht größtmögliche Gegensatz zu Geschwindigkeit, Flexibilität und Machbarkeit.

Wenn der Deutsche sich nach der untergegangen, prämodernen Welt sehnt, in der noch nicht alles von Beton überwuchert und dem Diktat des Profits und der rationellen Produktion unterworfen war, umarmt er am liebsten einen Baum. So vereint er sich mit seinen mythologischen Wurzeln. Geführte Waldwanderungen mit Baumumarmungen gehören zu den Verkaufsschlagern des sogenannten sanften Tourismus. Die meisten bösen Briefe erhalten Satiriker hierzulande gewöhnlich dann, wenn sie sich darüber lustig machen.

"Mein Freund der Baum ist tot ..." Alexandras überaus erfolgreicher Schlager aus den 1960er Jahren brachte es auf den Punkt - und feiert gerade in Stuttgart sein hunderttausendstes Comeback. Gerade das Beispiel Stuttgart zeigt es wieder mit aller Deutlichkeit: Was mit den Innenstädten im Namen des Komforts und der Effizienz angestellt wird, interessiert uns offenbar erst dann, wenn der erste Baum daran glauben muss.

Aber das Verhältnis zwischen Baum und Fortschritt, Schönheit und Technik, gefühlter Gemütlichkeit und glattem Komfort ist komplex.

Zum Beispiel ist die Gewinnung von Energie aus Windrädern doch eine sehr viel sauberere Sache als alle Köhlerei, Kraftwerke oder Raffinerien. Man sollte also meinen, Windräder seien bei den Freunden der Wälder eher beliebt, zumal ihre Form doch ein wenig an Bäume erinnert und ihre Zusammenballungen, Windparks genannt, einen schönen Namen haben, der Dichter glücklich machen könnte. Aber nein. Windräder werden als hässliche riesige Industriegewächse verteufelt, eine Art teuflische Unbäume, die die Gegend verschandeln.

Vielleicht sollte man sich darüber nicht wundern: Über die Windmühle etwa wurde zu ihrer Zeit auch sehr schlecht geredet. Erst als ein großer Dichter – kein Deutscher - sich von ihr zu einem großen Werk inspirieren ließ, das jede Menge Zivilisationskritik und Satire in sich vereinigt, kam die Windmühle zu Ehren, bis sie schließlich nach ein paar Hundert Jahren als romantischer Teil einer Kulturlandschaft galt. Sie machte allerdings, da sie am besten auf kahlen, baumlosen, windigen Ebenen gedeiht, den Bäumen keine Konkurrenz.

Es ist ein bisschen so wie mit den alten Bahnhöfen, Gleisanlagen und Dampfloks: Die waren, vom Standpunkt der Bäume aus betrachtet, doch eine Riesenschweinerei. Aber heute, nach mehr als anderthalb Jahrhunderten mit unzähligen Eisenbahngeschichten, -gedichten und –liedern, finden wir sie richtig gemütlich. Und wollen sie nicht wieder hergeben.

Katharina Döbler, Journalistin und Autorin in Berlin, Redakteurin bei Le Monde diplomatique, schrieb für "NZZ", "FAZ", sowie immer noch für die "ZEIT" und Rundfunk, ein Roman ist gerade erschienen: "Die Stille nach dem Gesang".
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Katharina Döbler.© privat