Fortreißende Strudeleien

03.06.2013
Die untergegangene Welt des Prager Judentums vor dem Ersten Weltkrieg wird in Max Brods Romanen und Erzählungen lebendig - in einer vitalen, beschreibungsstarken Prosa, die eine Neuentdeckung von Kafkas Nachlassretter lohnt.
Max Brod (1884-1968) ist der Autor eines umfangreichen literarischen Werks, das allein in bisher publizierter Form etwa 80 Bände umfasst. Dass er heute einen sicheren Platz in der Literaturgeschichte hat, verdankt sich allerdings weniger seinen eigenen Werken als dem Umstand, dass er der beste Freund, Anreger, Nachlassretter und PR-Mann Franz Kafkas war. Jetzt versucht eine neue Edition, Brod aus dem Riesenschatten Kafkas herauszuholen. Den Auftakt der "Ausgewählten Werke" macht ein Band mit früher Prosa der Jahre 1909-1913, das wichtigste Stück darin der Roman "Arnold Beer – Das Schicksal eines Juden".

Hier geht es um die Überwindung eines dandyhaft-ästhetizistischen Lebensgefühls durch das Erlebnis jüdischer Verwurzelung. Fulminant beschreibt Brod zunächst die Jugend eines Mannes ohne Eigenschaften – wie Musils Ulrich ist Arnold dabei eigentlich ein Mann mit zu vielen Eigenschaften, ein hyperaktives Temperament, ein Tausendsassa und Bajazzo (wie Thomas Mann diesen Typus nannte), der als Getriebener zu keiner plausiblen Lebensform findet. Er verfolgt künstlerische, intellektuelle, wissenschaftliche Interessen, schmiedet Projekte, absolviert die Liebe in Form von Affären. Aber alles sind bloß "fortreißende Strudeleien".

Reizvoll sind die involvierten Beschreibungen zeitgenössischer Passionen: Fünf wunderbare Seiten über das damals noch verrufene Fußballspiel, dem Prager Jugendliche heimlich zu Abendstunden in Parks mit verbeulten Bällen frönten, bis die "Sehnen brummten". Eine große Attraktion waren die Flugpioniere in ihren fliegenden Kisten, die manchmal auch nur Sprünge machten oder ganz am Boden blieben. Arnold Beer organisiert eine große Flugschau, die zum Desaster wird.

Geheilt von Unruhe und Unschlüssigkeit
Fluchtartig verlässt er daraufhin die Stadt und besucht seine kranke Großmutter in einem böhmischen Dorf. Diese Begegnung wird für ihn zum Erweckungserlebnis: Die alte Frau lebt in einfachsten Verhältnissen, sie spricht einen mit Jiddisch durchsetzten Dialekt, und in ihren Äußerungen schimmert eine jahrhundertealte jüdische Tradition durch. Am Ende scheint Arnold Beer geheilt von seiner Unruhe und Unschlüssigkeit.

Die untergegangene Welt des Prager Judentums vor dem Ersten Weltkrieg wird in Brods Romanen und Erzählungen wieder lebendig, aber auch die zweisprachige deutsch-tschechische Kultur, die meist eine Kultur des Aneinandervorbeilebens war, wie der Kurzroman "Ein tschechisches Dienstmädchen" zeigt, in dem sich ein Büroangestellter in ein Mädchen vom Land verliebt, das ihm so schön wie fremd erscheint. Er erkennt jedoch nicht die Tragödie, die sich anbahnt: dass seine reizende Pepitschka in Prag auf der Flucht vor ihrem Ehemann ist, einem brutalen Flößer.

Die Texte dieses Bandes haben historische Patina, aber Brods Prosa ist vital, beschreibungsstark, mit gelegentlich grellen expressionistischen Schlaglichtern und Wortfindungen. Es gibt Momente, in denen sich eine Stilverwandtschaft mit dem jungen Kafka andeutet. Das alles ist interessant genug, um die Wiederentdeckung dieses Autors fällig und reizvoll erscheinen zu lassen.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Max Brod: Arnold Beer. Das Schicksal eines Juden. Roman (und andere Prosa aus den Jahren 1909-1913)
Wallstein Verlag, Göttingen 2013
348 Seiten, 29,90 Euro
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